Nach dem Tod von Anis Amri: Viele offene Fragen
In Sesto San Giovanni, einer Vorstand von Mailand, endete die Flucht des mutmaßlichen Attentäters von Berlin, Anis Amri. Erschossen von Polizisten, denen völlig unklar war, auf wen sie gerade getroffen waren. Um drei Uhr morgens war ihnen eine einsame Figur mit Rucksack in der ansonsten verwaisten Stadt aufgefallen. Offenbar war sie gerade vom Bahnhof gekommen. Die Beamten stoppten für eine Routinemäßige Ausweiskontrolle. Amri kramte in seinem Rucksuck, zog die Pistole, schoss auf einen der Polizisten und verletzte ihn. Angeblich rief er dabei "Allahu Akbar". Wenig später lag er tödlich verletzt auf der Straße während Rettungssanitäter die Wiederbelebung versuchten. Es war Zufall, dass Amri gestoppt werden konnte, so viel mussten auch die italienischen Behörden eingestehen.
So endete die lange Reise des jungen Kriminellen und Terroristen, die ihn von seiner tunesischen Heimat quer durch Europa führte. In Tunesien war er bereits ein Jahr in Haft gesessen, wegen des Diebstahls eines LKWs. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise drohten ihm angeblich weitere fünf Jahre Gefängnis wegen eines bewaffneten Raubüberfalls, zumindest erzählte das sein Vater dem tunesischen Radiosender Mosaique. Er kam wohl nicht als Flüchtling des Arabischen Frühlings nach Europa, sondern als Verbrecher auf der Flucht. Ob er sich zu diesem Zeitpunkt schon radikalisiert hatte, ist nur eine der vielen offenen Fragen, die noch zu klären sind.
Italien im Fokus
Besonders seine Zeit in Italien wird in den kommenden Tagen und Wochen unter die Lupe genommen werden. Dort führte der junge Mann seine Karriere als Unruhestifter wohl nahtlos weiter. Mit Freunden soll er im Flüchtlingslager auf Lampedusa Feuer gelegt haben, um die Überführung auf das italienische Festland zu erpressen. Nachdem Tausende Flüchtlinge von der komplett überforderten Inse lnach Italien gebracht worden waren, wurde er wegen Brandstiftung, Körperverletzung, Bedrohung und Diebstahl verurteilt und brachte vier Jahre in sizilianischen Gefängnissen zu.
Nach seiner Entlassung 2015 sollte er nach Tunesien abeschoben werden. Doch die tunesischen Behörden weigerten sich offenbar, den kriminellen Landsmann zurückzunehmen. Amri dürfte ungehindert nach Deutschland gereist sein. Zwar geben die italienischen Behörden an, alle Informationen über den Mann an die Europäische Polizeidatenbank und das Schengen-Informationssystem weitergegeben zu haben. Ob und wie die deutschen Behörden damit umgingen, ist allerdings noch unklar.
Wie nun herauskam, hatte die Gefängnispolizei der Anti-Terror-Behörde in Italien einen Bericht über Amri geschickt. Er sei radikalisiert und zeige "eine Bereitschaft zu islamistischem Terror", hieß es darin. Einem Mithäftling soll er mit dem Kopfabschneiden gedroht haben. Ob diese Informationen bei der Terrorabwehr ankamen, ernst genommen und tatsächlich an die europäischen Datenbanken weitergeleitet wurden, wird noch zu klären sein. Und was wussten andere Geheimdienste Europas und der USA über die Machenschaften Amris?
Verwirrung in Deutschland
In Deutschland sorgte Amri schließlich mit mehreren Identitäten für Verwirrung. Doch die Behörden waren ihm auf den Fersen, ermittelten zeitweise sogar wegen mehrerer Vergehen, unter anderem wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat. Doch die Ermittlungen endeten im September diesen Jahres. Danach tauchte Amri unter. Was er in dieser Zeit tat, liegt noch im Dunkeln.
Auch zur Tat selbst gibt es noch zahlreiche offene Fragen. Polnische Medien berichten, dass der LKW laut GPS-Daten ab etwa 16 Uhr am Tag des Anschlags mehrmals gestartet worden sei. Danach riss der Kontakt ab. Was passierte dann bis zum Anschlag?
Und wie gelangte der Mann an seine Schusswaffe? Nach derzeitige Stand könnte Amri zweimal eine Waffe verwendet haben. Nähere Informationen dazu stehen noch aus. Die wichtigste Frage: Hatte Amri Unterstützer oder handelte es sich um einen Einzeltäter? Auch die Todesumstände des polnischen LKW-Fahrers, es soll einen Kampf gegeben haben, sind unklar.
Polizeiarbeit unter der Lupe
Und auch an der Polizeiarbeit in Berlin tauchen Fragen auf: Zwar gaben die Behörden an, einem standardmäßigen Ermittlungsablauf ohne Zeitverzögerung gefolgt zu sein. Tatsache ist aber auch, dass zunächst für wertvolle Stunden der falsche Verdächtige befragt wurde und wichtige Spuren, Amris Ausweis und sein Handy, erst verspätet gefunden wurden. In dieser Zeit reiste ein bewaffneter, hochgefährlicher Terrorist quer durch Europa.
Die Umstände seiner ungestörten Flucht über mehrere Staatsgrenzen wird in den kommenden Wochen ebenfalls in der Kritik stehen. Wurde genug getan um sie zu verhindern? Konnte überhaupt etwas dagegen getan werden?
Und warum stieg Amri ausgerechnet in Sesto San Giovanni aus dem Zug aus, noch dazu in Italien, wo ihn die Behörden besser kennen als irgendwo sonst in Europa?