Mit Gottes Segen auf die Barrikaden
Von Stefan Schocher
Sergej hat den Schal weit über die Nase und die Haube tief ins Gesicht gezogen. Darüber trägt er einen orangefarbenen Bauhelm. Seine Arme lehnen auf einer mannshohen Eisenstange. Sergej steht breitbeinig auf den Barrikaden in der Grushewskogo-Straße, bereit zu kämpfen. Wieder und wieder. Seit Sonntag ist er hier. Er sieht aus, wie alle an diesem Ort. Und doch gibt es einen kleinen Unterschied, den nur Sergejs Beinkleider verraten – er trägt ein Kleid: Sergej ist Geistlicher der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats und lacht selbst darüber, dass er ein bisschen wie ein japanischer „Ninja“-Kämpfer aussieht.
Beten und schweigen
Die ukrainische Orthodoxie ist allgegenwärtig in diesem Aufstand gegen die Führung in Kiew – nicht nur auf den Barrikaden. Auch davor. Jeden Tag marschieren Popen durch die Linien, um sich zwischen die Fronten zu stellen und zu beten. Das drohende Klopfen von Eisenstangen auf Beton oder auf Eisenfässern hört dann auf. Es wird still, Schweigen tritt ein. Die Drohgebärden haben Pause.
Und wenn es dann wieder losgeht, sind es zwischen patriotischen Liedern, die hier und überall im Protestlager gesungen werden, vor allem auch geistliche Gesänge, die Menschen jeden Alters anstimmen.
Für das Kiewer Patriarchat ist der Aufstand in der Ukraine je nach Sichtweise ein Überlebenskampf oder ein Triumph. Seine tiefe Involvierung in den Protest aber verdeutlicht vor allem auch eines: Wie gespalten dieses Land ist. Drei große christliche Gemeinden existieren in der Ukraine: Die mit Rom unierte griechisch-katholische Kirche, die ukrainisch-orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchats sowie die ukrainisch-orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats. Erstere überwiegen in der Westukraine und kommen einander kaum in die Quere.
Die ukrainisch-orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats ist die mit Abstand größte und finanziell am besten ausgestattete religiöse Gemeinschaft der Ukraine. Sie dominiert den Osten des Landes. Wenn sich die Angehörigen der Regierung Janukowitschs in Gotteshäusern zeigen, so gehen sie in Kirchen des Moskauer Patriarchats. Zwischen dem Moskauer und dem Kiewer Patriarchat herrscht milde ausgedrückt Eiszeit.
„Letzte Zuckungen“
In einem kleinen Kirchenbau gegenüber dem weltbekannten Höhlenkloster Lavra in Kiew sitzt Iwan Wolodimirowitsch Zorja, Erzbischof (Kiewer Patriarchat) von Tschernigiw. Detail am Rande: Lavra untersteht dem Moskauer Patriarchat. „Es geht um die Unabhängigkeit dieses Landes“, sagt Zorja auf die Frage der Motivation hinter dem massiven Engagement des Patriarchats bei den Protesten. „Die Kirche ist mit den Menschen, weil ohne Menschen gibt es keine Kirche“, sagt er. Um Politik gehe es da nicht. Viel eher um Würde angesichts der massiven Gewalt seitens der Staatsorgane und die Abwehr eines, wie er sagt, wachsenden russischen Einflusses. Was derzeit in Kiew vor sich gehe, das nennt Zorja die „letzten Zuckungen der ohnehin schon toten Sowjetunion“. Zugleich sei es aber auch „ein Kampf um unsere Existenz“.
Ein solcher ist es aber auch für das Moskauer Patriarchat. Kiew, das ist im orthodoxen Christentum eine heilige Stadt. Von hier aus wurde die mittelalterliche Region um Kiew christianisiert – zu einer Zeit, als Moskau noch gar nicht existierte. Zorja sagt: „Ohne Kiew hat die russische Orthodoxie keine Mutter mehr.“ Und die gegenwärtige Situation sei für das Moskauer Patriarchat nicht gerade hilfreich.
Ärger der Gläubigen
Vertreter des Moskauer Patriarchats in Kiew haben sich weit hinausgelehnt und klare Unterstützung für Präsident Viktor Janukowitsch bekundet. Bei vielen Gläubigen kam das jedoch nicht gut an. Und Vertreter der Patriarchats auf regionaler Ebene bekundeten zum Teil lautstark Protest gegen eine so eindeutige politische Positionierung.
Das Kiewer Patriarchat indes hat sich festgelegt. Geistliche wie Sergej kämpfen aber als Individuen und nicht als Kirchenvertreter auf den Barrikaden der ukrainischen Hauptstadt. Das Ziel des Aufstands, den Sturz der Regierung, würde das Kiewer Patriarchat aber begrüßen.
Von „Märtyrern“ spricht Sergej, wenn er über die Leute erzählt, die auf der Grushewskogo-Straße seit Sonntag gestorben sind und von „Helden“, wenn er die meint, die trotz beißender Kälte noch immer hier sind. Er selbst sagt: „Ich bin hier, um zu sterben.“ Er zippt die Jacke auf, deutet wortlos auf ein großes goldenes mit Steinen besetztes Kreuz, das er um den Hals trägt. Er lächelt, zippt die Jacke wieder zu und legt die Hände auf seine Eisenstange.
Vorbei ist die Waffenruhe. Am Samstag, einem Tag, an dem wieder besonders viele Menschen im Zentrum Kiews demonstrieren gingen, kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei. Auslöser der jüngsten Ausschreitungen war der Versuch der Sicherheitsbehörden, zu einer Barrikade der Demonstranten vorzurücken. Wasserwerfer und Gummigeschosse kamen zum Einsatz. Auch vonseiten der Demonstranten wurde Wasser eingesetzt – das alles bei minus 15 Grad.
Oppositionspolitiker Vitali Klitschko eilte an den Ort der Zusammenstöße. Es gelang ihm aber nicht, zu vermitteln. Zuvor hatte Klitschko in einer Videobotschaft an Polizisten appelliert, „keine verbrecherischen Befehle“ auszuführen. Bisher starben bei den Protesten mindestens vier Menschen.
Unterdessen gerät auf politischer Ebene wieder Einiges in Bewegung. Derzeit soll der Nationale Sicherheitsrat über die Verhängung des Ausnahmezustandes beraten. Kommenden Montag oder Dienstag könnte das Parlament darüber abstimmen. Erwartet wurde ein Einschreiten der Sicherheitsorgane. Die Opposition habe die Protestbewegung nicht mehr unter Kontrolle, so Innenminister Zacharchenko. Der Opposition warf er vor, drei Polizeibeamte als Geisel genommen zu haben.
Präsident Viktor Janukowitsch stellte indessen erneut eine Umbildung seines Kabinetts in Aussicht. Demonstranten, die keine schweren Verbrechen begangen hätten, versprach er eine Amnestie. Premier Nikolaj Asarow deutete seinen möglichen Rücktritt an.
In den nächsten Tagen wird auch Catherine Ashton in Kiew erwartet. Die EU-Außenbeauftragte will zwischen den Konfliktparteien vermitteln.
Derweil strahlt die Krise in Kiew auch auf andere Regionen des Landes aus: In mehreren Provinzhauptstädten wurden Gebäude der Lokalregierungen gestürmt. Vor allem im Westen, aber auch in der ostukrainischen Kleinstadt Sumi.