Kunduz: Taliban-Offensive bringt Armee in Bedrängnis
Von Stefan Schocher
Kaum hatten sich die afghanischen Sicherheitskräfte gesammelt nach der vernichtenden Niederlage vom Montag, kam am Dienstag der nächste Schlag. Noch während am Flughafen der umkämpften nordafghanischen Stadt Kunduz nach und nach Verstärkungen der Regierungseinheiten eintrafen, griffen Kämpfer der Taliban und des Haqqani-Netzwerks in den späten Abendstunden den Flughafen selbst an. Reporter vor Ort berichteten von schweren Kämpfen und davon, dass große Teile des Flughafens überrannt worden seien. Dabei liegt der an sich auf einem strategisch gut gelegenen und schwer befestigten Hochplateau – gleich neben der alten Basis der NATO-Truppe ISAF.
Noch am Dienstag hatten Regierungsstellen gemeldet, einen Frontalangriff auf die seit Montag von Taliban gehaltene Stadt nicht wagen zu wollen, um zivile Opfer zu vermeiden. Die Lage aber, so der Tenor, sei unter Kontrolle. Der Feind sei schwach. Die zentrale Polizeistation der Stadt sei ebenso zurückerobert worden wie das Gefängnis aus dem die Taliban am Vortag 600 Häftlinge freigelassen hatten.
Die Brisanz der Lage aber unterstrich ein Umstand: Die US-Luftwaffe flog am Dienstag Angriffe auf Kunduz. Bei einem davon, nahe dem Flughafen, soll der Taliban-Schattengouverneur der Region getötet worden sein. Luftangriffe sind dabei etwas, das die USA zuletzt kaum taten, sieht man doch die afghanischen Stellen in der Verantwortung für die Sicherheit des Landes.
In Kunduz aber offenbart sich gerade in dieser Lage die ganze Misere der afghanischen Sicherheitskräfte. Hunderte Kämpfer waren in der Nacht auf Montag bestens koordiniert in die Stadt vorgedrungen. Polizei und Armee hatten keine Chance gegen die für die Taliban an sich unübliche Vorgehensweise – für gewöhnlich meiden diese große Konzentrationen, um vor allem aus der Luft schwerer zu treffen zu sein. Was aber Luftunterstützung angeht ebenso wie Luft-Transportmittel sind die Möglichkeiten der afghanischen Armee äußerst limitiert. Damit stockt auch der Nachschub. Und mit der Einnahme des Flughafens von Kunduz würden alle afghanischen Kräfte in dem riesigen aber schwer zugänglichen Talkessel um die Stadt mit einem Schlag von Belagerern zu Belagerten.
Symbolträchtiger Sieg
Erst zu Jahresbeginn hatten die Taliban versucht, Kunduz einzunehmen, waren aber gescheitert. Jetzt ist ihnen ein symbolträchtiger Sieg gelungen. Kunduz war im Zuge des Bürgerkrieges die erste und 2001 die letzte Bastion der Taliban im Norden – blieb aber seither immer ein Problemgebiet für die Regierung in Kabul ebenso wie für ausländische Truppen.
Es rührt wohl daher, dass am Dienstag auch deutsche Militärs nach Kunduz eingeflogen wurden. Die Bundeswehr hat ihre Erfahrungen mit der Region – und durchaus schmerzhafte. Fast genau auf den Tag genau vor zwei Jahre hatte sie ihr Feldlager am Flughafen der Stadt an afghanische Einheiten übergeben – dabei soll es beinahe zu Kämpfen gekommen sein, weil die Abziehenden nicht nur die Basis sondern auch ihre Waffen übergeben sollten. An einem Berghang mit knapp einem Dutzend kleinen Dörfern in Sichtweite des Flughafens hatte die Bundeswehr zudem die schwersten Verluste ihrer Präsenz in Afghanistan verzeichnet – die Region wurde gegen Ende der deutschen Präsenz einfach gemieden. Und in anderen Problemzonen wurden nicht zu bändigende Kriegsherren mit ihren Leuten ganz einfach in die Polizei eingegliedert – weil man aus Zeitmangel (das Ende des ISAF-Mandates endete) keine andere Möglichkeit sah.
Die Region ist dabei ebenso kompliziert in ihrer Stammesstruktur wie strategisch bedeutend, was ihre Lage angeht. Über Kunduz laufen wichtige inner-afghanische Straßenverbindungen, und die Stadt ist Sprungbrett zum wichtigsten Grenzübergang nach Tadschikistan.