Politik/Ausland

Krieg, Terror, Hunger: Syriens Kinder gehen durch die Hölle

Moijed Khatim hat ein Gedicht geschrieben. "Mein Traum", heißt es. Mit einem angewinkelten Bein trägt er es vor: "Ich möchte meinen Traum zurück haben. Ich möchte mein Bein zurück haben", brüllt er, stützt sich auf Krücken, hält dann die Hand vor sein Gesicht und schluchzt: "In mir ist so viel Schmerz. Den möchte ich zurückgeben im Tausch für meinen Traum."

Der syrische Bub ist gerade zwölf Jahre alt, aber er erlebte in seiner Heimat mehr Brutalität, als er vielleicht jemals ganz verkraften wird können. Reden mag er nicht darüber, aber als in seiner Schule ein Theaterstück geplant wird, will er darin vorkommen: Mit seinem Gedicht, das von einem seiner besten Freunde handelt, einem passionierten Fußballspieler. Moijed hatte mitansehen müssen, wie der sein Bein verlor: Amputiert durch einen Henker der Terrormiliz "Islamischer Staat". Es war die Strafe, weil er an einem Freitag trainierte, statt zu beten.

Über zwei Jahre, vom Jänner 2014 bis Mitte August 2016, wurde Moijeds Heimatstadt Manbij im Norden Syriens von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) kontrolliert. Die Miliz wütete unbarmherzig. Teil des Schreckensregimes war, dass auch Buben sich die grauenhaften Exekutionen ansehen mussten. Dieser Horror war drei Jahre lang Alltag in der Hälfte Syriens. Erst während der vergangenen Monate ist es gelungen, den Terrorstaat so gut wie zu besiegen. Doch die Spur der Verwüstung, die davon geblieben ist, wird Jahre brauchen, bis sie nicht mehr sichtbar sind.

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Dazu ist der IS-Terror nur eine von vielen Facetten von Gewalt in dem nun schon sieben Jahre dauernden Konflikt. Eines von drei Kindern Syriens hat bisher nichts als Krieg erlebt; insgesamt sind dies 3,7 Millionen. Sie wuchsen mit der Terrormiliz IS auf, waren Flächenbombardements ausgesetzt, Terrorangriffen und schwerster Armut. Eine soeben in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschienene Studie zeigt, dass vor allem Kinder massiv zu den Todesopfern und Verwundeten zählen: 400.000 Menschen starben in dem Konflikt, ein Viertel davon waren Kinder. Jene, die Angriffe verletzt überlebten, waren auf einfachste medizinische Hilfe angewiesen: Die Hälfte der Spitäler ist zerstört.

Und auch 308 Schulen sind ausgebombt. Zerstörung und Krieg führen dazu, dass momentan 2,7 Millionen Kinder in Syrien nicht zur Schule gehen. Dabei ist regelmäßiger Unterricht, wie das Beispiel in Manbij zeigt, eine der wenigen Stützen für Kinder. 3700 Lehrer und Lehrerinnen wurden in dieser Stadt im Vorjahr mobilisiert, die für ein Gehalt von umgerechnet fünfzig Euro im Monat die vielleicht wichtigste Aufbauarbeit leisten.

Mit Puppen das Köpfen geübt

"Unsere Stadt taufte die Terror-Miliz in Klein-London um, weil so viele ausländische Kämpfer einrückten. Die waren berüchtigt für ihre besonders rohe Gewalt", erzählt Hala Hassi Mahmoud, Direktorin der Schule, in der Kinder wie Moijed Khatim lernen, in die Normalität zurückzufinden: "Die Extremisten zwangen Buben, an Kursen teilzunehmen, wo man sie mit radikalen Ideen indoktrinierte, ihnen mit Puppen das Köpfen lehrte, sie schon im Volksschulalter an Waffen trainierte. Alle anderen Schulen waren geschlossen."

Es gehe jetzt, betont sie, nicht nur darum, die verlorene Schulzeit aufzuholen, sondern vor allem darum, die Seelen der Kinder zu heilen. Mit der Idee, ihre Schützlinge ein Theaterstück schreiben und inszenieren zu lassen, versuchte sie ihnen Raum für ihre Trauer und Aufarbeitung zu geben. "Unsere Schüler reagieren wie versteinert, wenn wir sie direkt auf diese Zeit ansprechen. Wir fanden keinen Draht, bis wir sie Rollen in einem Theaterstück spielen ließen. Das half." Szenisch verarbeiten sie nun, was passierte – Moijed Khatim die Amputation des Beines seines Freundes in einem Gedicht. Oder der zehnjährige Ali Ibrahim, der ein Lied über einen verwundeten Freund schrieb: Als er es vorsingt, versteckt der Zehnjährige einen Arm unter seinem Pulli. "Ich liebte es, zu malen, doch die Terroristen haben es mir verboten, den Pinsel weggenommen, dann das Papier. Und dann hat mir eine Bombe im Krieg den ganzen Arm gestohlen."

Und da ist Sana, elf Jahre alt, die eine Geschichte erzählt, wie sie ihre Puppe nach einem Angriff schwer beschädigt ohne Kopf findet und sie dann zusammen näht. – "Das ist nur ein Vergleich für das, was ich erlebt habe", erzählt das Mädchen vorsichtig: "Ich war auf dem Weg zu meiner Oma, da habe ich gesehen, wie sie bei der Straßenkreuzung einem Mann den Kopf abgeschlagen haben."

Unfassbare Gräueltaten beschreiben auch die Lehrer: An der Allee im zentralen Kreisverkehr hätte man Männer gehenkt, ihre Leichen dort belassen, bis Vögel über sie herfielen, so Salah al-Suleiman, der Arabisch unterrichtet: "Jeder Schritt führte einen in einen Abgrund." Die Probleme gingen leider weit über schwerste Traumatisierungen hinaus, so Salah al-Suleiman: "Manche Kinder sind von der Terrormiliz so beeinflusst worden, dass sie ihre Eltern als Ungläubige verachten und auf jede kleinste Belastung mit Gewaltausbrüchen reagieren." Nachdem kurdische Milizen, unterstützt von den USA, im Vorjahr die Stadt von der IS-Miliz befreiten, wurden in Manbij 3700 Pädagogen mobilisiert, um rasch für Normalität zu sorgen.

Fragile Machtbalance

Die strategisch enorm wichtige Stadt Manbij wurde ab 2011 heftig umkämpft: 40 Kilometer von der türkischen Grenze und 80 Kilometer von Syriens Metropole Aleppo entfernt, wurde sie erst von den Kämpfern der oppositionellen "Freien Syrischen Armee" eingenommen, dann heftig von der syrischen Armee bombardiert, bevor sie unter IS-Kontrolle geriet. Jetzt wird die mehrheitlich arabische Stadt von kurdischen Milizen militärisch kontrolliert. Es ist eine fragile Machtbalance, die möglicherweise nur eine Pause vom Krieg, aber nicht dessen Ende bedeutet. Denn trotz der intensivierten Friedensgespräche, die derzeit in Genf laufen, ist Syriens Krieg längst nicht beendet.

So auch nicht die Qualen, denen Kinder ausgesetzt sind. Diese verschlimmern sich eher in manchen Regionen. So hat sich in den Vororten von Damaskus, die noch unter der Kontrolle der Opposition sind, die Lage der Zivilbevölkerung massiv verschlechtert. Besonders betroffen ist die Region Ost-Ghouta, wo 400.000 Menschen im Belagerungszustand durch Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad sind. Die Bastion der Aufständischen wird regelrecht ausgehungert und dazu laufend bombardiert.

Sie essen Gras und Tierfutter

Laut einem Bericht des Welternährungsprogramms WHO ist die Lage derzeit verheerend. So ist darin ein Selbstmord einer Elfjährigen dokumentiert, die ihren jahrelangen Hunger nicht mehr ertragen konnte. Zwölf Prozent der Kinder hier in Ost-Ghouta sind dramatisch unterernährt, etwa ein Dutzend ist bereits verhungert. Um zu überleben, wird laut WHO Gras gegessen, Tierfutter und im Extremfall auch Katzen und Hunde.

"Für Kinder ist die laufende Kulisse von Gewalt und Angriffen kaum zu verkraften. Doch auch Hunger und das Töten von Tieren, die sonst nie gegessen würden, stellen nicht nur enorme körperliche, sondern auch psychische Belastungen dar", so Zaher Sahloul, ein Arzt mit syrischen Wurzeln, der in Chicago lebt und im Rahmen der "Syrian American Medical Society" bereits 14 Mal im Einsatz im Kriegsgebiet war: "Die extremen und langen Belastungen für Kinder führen dazu, dass die Entwicklung von der Gehirnfunktionen beeinträchtigt sind", warnt Sahloul. Er hat beobachtet, dass normale Schutzreaktionen fehlen, Kinder würden bei Bombenangriffen völlig ruhig bleiben. "Sie drohen Gewalt und Krieg als die eigentliche Realität zu begreifen." Mit verheerenden Konsequenzen für Syriens Zukunft, wie auch die engagierte Schuldirektorin Hala Hassi Mahmoud betont: "Damit unser Land langfristig Stabilität findet, wird es genauso wichtig sein, unsere Kinder wieder aufzubauen wie Gebäude. Politische Lösungen allein werden nicht genügen."

Von Petra Ramsauer