Politik/Ausland

Kiew/Moskau: "Praktisch im Kriegszustand"

Manche sagten, er sei ein "Bekehrter"; andere nannten ihn "den Ersten, der umfallen würde", sollte Russland in Charkiw etwas vorhaben. Am Montag wurde Gennady Kernes, Bürgermeister der zweitgrößten Stadt der Ukraine, in den Rücken geschossen, als er wie jeden Morgen schwimmen gehen wollte. Noch am Abend hieß es, Ärzte würden um das Leben des Unternehmers und Politikers kämpfen.

Kernes galt als Gefolgsmann des gestürzten Präsidenten Janukowitsch, der sich mit der neuen Führung in Kiew, die vor allem in den östlichen Regionen auf lokale Wirtschaftsgrößen als stabilisierender Faktor setzt, bestens arrangierte. Plötzlich begann er, lauthals patriotische Reden für eine geeinte Ukraine zu halten. Jetzt ist er mit Abstand das bisher prominenteste Opfer der Krise in der Ukraine. Wobei ungeklärt ist, wer hinter der Tat steht.

Gewalt-Welle

Das ostukrainische Charkiw erlebt dieser Tage eine Gewalt-Welle – nach relativ ruhigen Wochen. Am Sonntag wurde eine pro-ukrainische Demo von pro-russischen Aktivisten angegriffen. 14 Personen wurden verletzt. Die Krise im Donbass, wo Separatisten Gebäude und Städte besetzt halten, strahlt aus.

Von Charkiw sind es 170 Kilometer ins von Separatisten besetzte Slowjansk. Dort hielten Bewaffnete weiterhin Militärbeobachter einer OSZE-Mission fest. Es handelt sich um vier Deutsche sowie Beobachter aus Tschechien, Polen und Dänemark. Aus Sicht der Separatisten handelt es sich bei ihnen um "Kriegsgefangene", die man gegen Gefangene aus den eigenen Reihen austauschen möchte. Eine Einigung zeichnete sich aber nicht ab. All das, während Uniformierte ohne Hoheitsabzeichen am Montag weitere Regierungsgebäude besetzten und Separatisten in Lugansk der Regierung in Kiew ein Ultimatum bis Dienstag stellten, alle Forderungen (Freilassung aller Gefangenen, Föderalisierung usw.) zu erfüllen. Sonst werde man "zu aktiven Handlungen übergehen". Immerhin wollen die Separatisten am 11.Mai ein Referendum über die Loslösung abhalten – und dafür benötigt es flächendeckende Infrastruktur.

Ausweitung der Krise

Daran, dass hinter all dem eher russische Kommandos als lokale Aktivisten stehen, zweifelt im Rest der Ukraine kaum jemand. Und damit wächst die Angst vor einer Ausweitung der Krise – vor allem in den Regionen Cherson und Odessa. Anlass sind Befürchtungen, Moskau wolle sich den Landweg zur Krim und zum von der Republik Moldau abtrünnigen Transnistrien sichern. Transnistrien will den Anschluss an Russland und beherbergt russische Truppen, die derzeit Manöver abhalten. Durch Cherson wiederum laufen Versorgungswege für die Krim (Strom, Gas und Wasser).

"Alle Anzeichen sprechen für eine Ausweitung der Krise", so der Politologe Sergej Glebow aus Odessa. Die Ukraine und Russland befänden sich "praktisch in Kriegszustand". Die Chancen auf eine Verhandlungslösung seien verschwindend: "Wirkliche Gespräche kann es aus Sicht Kiews nur geben, wenn Russland die Krim abgibt – und das wird nie passieren. Es ist eine Sackgasse – und wir sind darin gefangen." Und die EU, die zeige sich derzeit leider von ihrer schwachen Seite.

Die an Manövern an der ukrainischen Grenze beteiligten russischen Truppen sind nach Darstellung von Verteidigungsminister Sergej Schoigu in ihre Standorte zurückgekehrt. Das sagte Schoigu am Montagabend während eines Telefonats mit seinem US-Kollegen Chuck Hagel, wie die Agentur Interfax berichtete.

Grund für den Abzug der Truppen sei die Beteuerung aus Kiew, die ukrainische Armee "nicht gegen unbewaffnete Zivilisten" im Osten des Landes einzusetzen. Russland hatte Mitte April zusätzliche Einheiten an die Grenze zur Ukraine zu "Manövern" verlegt.

Ähnliches verlautete am Abend auch aus dem russischen Verteidigungsministerium. "Nachdem die ukrainischen Behörden mitgeteilt haben, dass es keine Absicht gebe, die regulären militärischen Einheiten gegen unbewaffnete Bevölkerung einzusetzen, wurden die russischen Einheiten in ihre dauerhaften Standorte zurückverlegt", heißt es in einer Pressemitteilung.

Angesichts der eskalierenden Gewalt in der Ukraine (siehe links), für die der Westen auch und vor allem Kreml-Chef Wladimir Putin verantwortlich macht, haben die USA und die EU die Sanktionen gegen Russland weiter verschärft.

Auf der US-Watchlist stehen nun sieben weitere russische Regierungsvertreter sowie 17 Unternehmen mit Verbindungen zu Putin. Zudem werden in den Staaten keine Exportlizenzen für Hightech-Produkte mehr erteilt, die der Rüstungsindustrie zugute kommen könnten. Für den Fall weiterer russischer Militäreinsätze in der Ukraine drohte US-Präsident Obama Moskau mit Strafmaßnahmen gegen Schlüsselsektoren der Wirtschaft. Gemeint ist wohl der Energiebereich.

Auch die Europäische Union konnte sich gestern zu einer Ausweitung der bestehenden Sanktionen durchringen. Konkret wurden gegen 15 weitere russische Top-Leute Einreise- und Kontensperren ausgesprochen. Bisher waren von dieser Maßnahme 33 Staatsbürger aus Russland sowie Personen aus der Krim betroffen.

Wirtschaftssanktionen seien zwar in Vorbereitung, sagte die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, stünden derzeit aber noch nicht zur Debatte. Diese sind besonders heikel, da Europa im Energiebereich stark von Russland abhängig ist. Ein Drittel des Gasbedarfes kommt aus Putins Reich. Ein derartiger Schritt müsste von allen 28 EU-Mitgliedern beschlossen werden.

Moskau kritisierte die weiteren Sanktionen als "abscheulich". Sie bewiesen, dass das Weiße Haus unter "Realitätsverlust" leide, formulierte Vize-Außenminister Sergej Rjabkow. Er kündigte Gegenmaßnahmen an.

Obwohl weder Washington noch Brüssel bisher zur schärfsten Waffe gegriffen haben, Wirtschaftssanktionen nämlich, machen sich die Strafmaßnahmen in Russland schon bemerkbar. Im ersten Quartal dieses Jahres flossen bereits 70 Milliarden Dollar ab – Investoren bringen ihr Geld in Sicherheit. Anleihe-Emissionen mussten bereits mehrmals mangels Interesse im Finanzsektor abgesagt werden. Zudem senkten Rating-Agenturen Russlands Bonität, sie liegt jetzt nur noch eine Stufe über dem so genannten "Ramsch-Status". Außerdem verlor der Rubel an Wert, was Importgüter massiv verteuert.

Die Weltbank geht bei ihrer Risiko-Einschätzung davon aus, dass Russlands Wirtschaft im Worst-Case-Szenario, also im schlimmsten Fall, heuer um 1,8 Prozent schrumpfen könnte.

Erste Stufe In einem ersten Schritt setzte die EU Verhandlungen über Visa-Erleichterungen für russische Staatsbürger sowie über ein neues Grundlagenabkommen aus.

Zweite Stufe In einem nächsten Schritt wurden relevante russische Politiker, Unternehmer und Manager mit Einreise- und Kontensperren belegt, etwa Vize-Premier Dmitri Rogosin.

Dritte Stufe Als schärfstes Mittel wurden Wirtschaftssanktionen angedroht.