Politik/Ausland

Italiens Fünf-Sterne-Bewegung: In Umfragen top, im Alltag flop

Verfall, Schmutz und Drogen machen den Bewohnern rund um die Piazza Vittorio zu schaffen. Nur 15 Gehminuten vom Bahnhof Termini entfernt, zeigt sich ein anderes Bild von Rom, als jenes der prachtvollen Sehenswürdigkeiten.

"Wenn nicht bald etwas passiert, bricht hier ein Krieg unter den Armen aus. Wir haben die Nase voll", sagt die Zeitungsverkäuferin an der Piazza. "Der Dreck wird nicht mehr weggeräumt, Obdachlose und Drogendealer schlafen in den Abgängen zur U-Bahn. Vorige Woche hat ein Ausländer eine alte Frau vergewaltigt."

Palazzi bröckeln

Der Park ist vermüllt, die Bänke werden von Alkoholikern und Drogenabhängigen besetzt. Familien mit Kindern ziehen weg.

Ein paar Künstler halten die Stellung. Wie der Filmregisseur Sorrentino, der sich in einer Bürgerinitiative für das multi-ethnische Viertel engagiert.

Unter den Bogengängen stapeln sich Müllberge, ein Obdachloser uriniert gegen eine antike Säule, Stuckteile fallen von der Decke der alten Palazzi. Ein Gestrandeter entzündet am Gehsteig ein Feuer gegen die Kälte.

Die Stadtregierung ignoriert seit vielen Jahren die gravierenden Probleme um Sicherheit und Hygiene. "Es ist nicht die Schuld von (Bürgermeisterin) Raggi, aber auch sie hat bisher überhaupt nichts gemacht", sagt eine Signora, die in Kindheitserinnerungen an das einstige Prachtviertel schwelgt.

"Haufen Dilettanten"

Es kursiert in Italien das Bonmot: Wenn du einer Person schaden willst, mache sie zum Bürgermeister von Rom – einer Stadt, die als chronisch unregierbar gilt.

"So ein Haufen von Dilettanten" wie seit zwei Jahren sei vorher dort nicht im Amt gewesen, zeigt Paolo mit der Hand Richtung Kapitol. Er hält sie aufgrund ihrer Unfähigkeit fast für gefährlich, vor allem in einer Regierung.

"Es reicht ein Spaziergang durch die Stadt, um sich davon zu überzeugen. Angefangen von Staus, überfüllten Autobussen bis zu riesigen Löchern im Asphalt", macht der 55-jährige Römer seinem Ärger Luft.

Er pendelt täglich aus einem Vorort zu seinem Arbeitsplatz in der römischen Innenstadt. Viele seiner Bekannten bereuen mittlerweile, die Fünf Sterne-Bürgermeisterin Virginia Raggi gewählt zu haben. Parteigründer Grillo habe ihm gefallen, "so lange er nur Komiker war."

Vernachlässigung der Peripherie

Ein weiteres trauriges Kapitel ist die Vernachlässigung der Peripherie, etwa im Viertel Trullo am südlichen Stadtrand.

"Die beiden Abwasserkanäle dort drüben sind seit Jahren kaputt. Ein paar Regentropfen genügen, und die Straßen sind überflutet", ärgert sich der pensionierte Fleischhauer Massimo über die Stadtregierung. "Die sind komplett abwesend hier", merkt der Ex-Blumenhändler Armando Altarozzi an.

Das lokale Ärztezentrum wurde voriges Jahr geschlossen und nicht wiedereröffnet. Die Stadtpolizei lasse sich auch nur ab und zu blicken.

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Gerade die Bewohner der Peripherie setzten große Hoffnungen in Virginia Raggi, die selbst aus einer "borgata", dem Vorort Ottavia, stammt. Im Wahlkampf hatte sie versprochen, sich besonders um die Infrastruktur am Stadtrand zu kümmern.

"Grillo-Frankenstein"

Auch im Kulturbereich herrscht Unzufriedenheit. "Vielleicht erwacht die Bürgermeisterin endlich aus dem Winterschlaf, vielleicht gelingt es Grillo-Frankenstein, diesen Körper ohne Leben zu bewegen", meint der römische Schauspieler Ascanio Celestini.

Er unterstützt den Erhalt des Sommerkinos in Trastevere, bei dem Oskar-Preisträger Roberto Benigni gastierte. Die Stadtregierung wirft den Betreibern vor, für die Demokratische Partei zu werben und will den Auftrag neu vergeben.

Im vornehmen Viertel Prati lebt seit langem der bekannte sizilianische Krimiautor Andrea Camilleri. Auch er ist verärgert: "Nie in der Geschichte hatte die Stadt einen schlechteren Bürgermeister." Das Absurde dabei sei, so der Schriftsteller, würde heute neu gewählt werden, würde Raggi wahrscheinlich wieder gewinnen.

Politologe Roberto Cartocci von der Universität Bologna versucht gegenüber dem KURIER das Paradoxon zu erklären: "Die Fünf Sterne sind die neueste Erfindung in der kreativen italienischen Politik. Sie verkörpern die neue Anti-Politik in der Internet-Ära. Berlusconi hatte die Fernsehsender, Grillo hat das Internet. Beide versprechen viel und halten nichts."

Die zwei "personaggi", Grillo und Berlusconi, würden perfekt das Klischeebild des Italieners erfüllen.

Gerade bei Lokalwahlen experimentieren die Italiener gerne, sagt Cartocci. Sie protestieren gegen die Politiker, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen. "In der Vergangenheit zeigte sich aber, dass bei Parlamentswahlen kommenden Sonntag die Entscheidung etwas ernsthafter ausfällt", so Roberto Cartocci.

"Tolle Ausstellungen"

Raggis Anhängerschaft agiert aus einem Bauchgefühl. "La Raggi" sei "schön und faszinierend", sagt einer ihrer Fans, angetan von der attraktiven Erscheinung der 39-jährigen Römerin.

Auf die Frage, was unter Raggi besser geworden sei, muss der Fotograf länger überlegen. "In Rom hat auch vorher vieles nicht funktioniert. Dass Busse unregelmäßig fahren und überfüllt sind, das war schon immer so."

Aber es gebe "tolle Ausstellungen, Theater, Konzerte, ich fühle mich in der Stadt sicher".

Eine Raggi-Wählerin der ersten Stunde bereut ihre Entscheidung nicht: "Es ist viel Polizei unterwegs, neue Stationen der Metro Linie C wurden eingeweiht."

Zu der Kundgebung hatte die Demokratische Partei von Matteo Renzi aufgerufen. Tausende beteiligten sich an dem Solidaritätsakt nach den rassistischen Schussattacken auf sechs Afrikaner in Mittelitalien Anfang des Monats.

In Mailand fand eine Demo mit dem Slogan „Italiener zuerst!“ statt – ebenfalls mit Tausenden Teilnehmern. Organisiert wurde sie von Lega-Chef Matteo Salvini.

Protestiert wurde gegen die „Invasion illegaler Einwanderer“. Weitere politische Demos verschiedener Parteien gab es in Turin und Palermo.

"Rote Linie überschritten"

In Italien kam es zuletzt gehäuft zu gewalttätigen Angriffen zwischen rechtsradikalen und linksextremen Gruppen. In Palermo prügelten Linksradikale einen Aktivisten der faschistischen „Forza Nuova“ krankenhausreif.

30 militante Forza Nuova-Anhänger drangen gewaltsam in das TV-Studio La Sette ein und protestierten gegen die Ausladung bei Politdebatten. Vermummte stachen in Perugia auf einen Wahlhelfer der linken Kleinpartei „Macht für das Volk“ ein. Innenminister Minniti kündigte „null Toleranz“ gegenüber Gewalt an, von welcher Seite auch immer: „Man kann über alles diskutieren, aber sobald es handgreiflich wird, ist eine rote Linie überschritten.“