IS droht mit Mord an Geisel in Algerien
In Algerien ist ein französischer Tourist verschleppt worden - zu der Entführung haben sich Islamisten mit Verbindungen zur Jihadistenmiliz "Islamischer Staat (IS)" bekannt. In einem am Montagabend aufgetauchten Video drohte die Gruppe Jund al-Khilifa mit der Ermordung ihrer Geisel binnen 24 Stunden, sollte Paris nicht seine Luftangriffe gegen den IS im Irak stoppen.
Der 55-jährige Franzose war den Extremisten am Sonntag beim Wandern in der Kabylei in die Hände gefallen und ist auf dem Video zu sehen. Der Mann stellt sich darin mit Namen vor und gibt an, am 21. September entführt worden zu sein. Das Außenministerium in Paris bestätigte am Montag die Entführung. Es werde alles getan, um den Franzosen zu finden, hieß es in einer Mitteilung. Dafür gebe es ständigen Kontakt mit den algerischen Behörden.
In der östlich der Hauptstadt Algier gelegenen Kabylei sind mehrere bewaffnete islamistische Gruppierungen aktiv, unter anderem die Organisation Al-Kaida im Islamischen Maghreb (Aqmi). Zunächst war nicht klar, ob der Mann ein Opfer bewaffneter Islamisten oder gewöhnlicher Krimineller wurde.
Warnung an Frankreich
Frankreich hatte sich als erstes europäisches Land an den US-Luftangriffen gegen IS-Stellungen im Irak beteiligt. Am Montagabend rief das französische Außenministerium seine Staatsbürger in rund 30 Ländern zu „größter Vorsicht“ auf.
Das algerische Verteidigungsministerium teilte unterdessen mit, Soldaten hätten am Sonntagabend südlich von Tizi Ouzou in der Kabylei einen „Terrorchef“ getötet. Im April waren bei einem Angriff auf einen Militärkonvoi in der Kabylei, zu dem sich später Aqmi bekannte, elf Soldaten getötet worden. Seit 2005 wurden in der Kabylei etwa 80 Algerier verschleppt. Die Entführer forderten Lösegeld von den Angehörigen. Drei verschleppte Opfer wurden getötet.
Drohung gegen Europa
Die Entführung erfolgte wenige Stunden, bevor die Jihadistengruppe „Islamischer Staat“ (IS) damit drohte, Bürger all der Staaten zu töten, die sich der internationalen Koalition gegen sie angeschlossen haben. In der Drohung wurden insbesondere Franzosen und US-Bürger als Ziel genannt. Die Terrormiliz rief zur Tötung der Bürger aller Staaten auf, die sich der internationalen Koalition gegen die Organisation angeschlossen haben. Anhänger und Unterstützer von IS sollten "ungläubige Amerikaner oder Europäer - vor allem die boshaften und dreckigen Franzosen" töten, erklärte IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani am Montag in einer Botschaft. Er nannte auch Australier oder Kanadier als Ziele sowie alle "Bürger jener Länder, die sich der Koalition gegen den Islamischen Staat angeschlossen haben".
Nach der US-Luftwaffe hatten kürzlich auch Kampfflugzeuge Frankreichs erstmals Angriffe gegen IS-Stellungen im Norden des Iraks geflogen. Zahlreiche weitere westliche und arabische Staaten schlossen sich der US-geführten Koalition gegen die Gruppe an und sagten Waffenlieferungen und andere Hilfen zu.
Die Franzosen reagierten noch am Montag auf die massiven Drohungen: "Auch wenn es niemals ein Risiko Null gibt, ergreifen wir heute 100 Prozent Vorsichtsmaßnahmen", sagte Innenminister Bernard Cazeneuve am Montag in Paris. Die Regierung setze alle Sicherheitsmaßnahmen "mit kühlem Kopf" um, "ohne sich von der Niederträchtigkeit der Terroristen" beeindrucken zu lassen. "Frankreich hat keine Angst", hob der Minister mehrfach hervor.
Nach Medienberichten, die belgische Polizei habe IS-Attentate auf die EU-Kommission vereitelt, hat diese nun auch ihre Sicherheitsvorkehrungen verstärkt - als reine Vorsichtsmaßnahme. Konkrete Hinweise auf eine Bedrohung habe man aber nicht.
130.000 Flüchtlinge
Auch Ägypten ist nun im Visier der Terroristen: IS rief auch zu Anschlägen auf Sicherheitskräfte auf der Sinai-Halbinsel auf. "Spickt die Straßen mit Sprengstoff. Greift ihre Stützpunkte an. Überfallt ihre Häuser. Schneidet ihnen die Köpfe ab, lasst sie sich nicht in Sicherheit wiegen", heißt es IS-Appell.
Die Lage in der Türkei wird auch immer prekärer: Als Folge des Vormarsches des IS im Norden Syriens sind nach Angaben der Regierung in Ankara inzwischen mehr als 130.000 Menschen in die Türkei geflüchtet – seit der Grenzöffnung am Freitag. Die UNO hatte zuvor noch von 100.000 syrischen Kurden gesprochen.
PKK ruft zum Kampf auf
Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat nun angesichts der beispiellosen Flüchtlingswelle die Kurden in der Türkei zum Kampf gegen IS aufgerufen. "Es gibt im Widerstand keine Grenze mehr", weshalb eine "Mobilisierung" nötig sei, hieß es in einer PKK-Mitteilung, aus der die prokurdische Nachrichtenagentur Firat am Montag zitierte.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte eroberten IS-Kämpfer seit Donnerstag etwa 60 Dörfer in den Kurdengebieten im Norden Syriens und drängten kurdische Kämpfer zurück.
Ziel der IS-Offensive ist die kurdische Stadt Ain al-Arab nahe der Grenze zum Nachbarland. Die PKK kämpft bereits im Norden des Iraks aufseiten der kurdischen Peschmerga gegen die Dschihadisten, nachdem Anfang August die Kurden aus dem Irak, der Türkei und Syrien gegen die Extremisten eine gemeinsame Offensive starteten. In den syrischen Kurdengebieten führt die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) den Kampf gegen die IS-Milizen an. Sie ist die syrische Schwesterpartei der PKK.
Der PKK-Vertreter Dursun Kalkan rief laut Firat in einem belgischen Fernsehsender alle Kurden auf, sich zusammenzuschließen. "Die kurdische Jugend vor allem, die Frauen, müssen diesen Angriffen entgegentreten", sagte Kalkan. Er warf der Türkei "Kollaboration" mit der IS-Miliz vor, weil Ankara territoriale Ambitionen im Irak und in Syrien habe. Die Türkei hatte sich bisher im Kampf gegen die Dschihadisten zurückgehalten, die seit Juni im irakischen Mossul 46 türkische Diplomaten und Angehörige als Geiseln hielten, bevor sie diese am Samstag freiließen.
Wer ist IS?
Eine der radikalsten islamistischen Gruppen im Nahen Osten – der Name steht für „Islamischer Staat“, was die Absicht der Organisation andeutet, auf dem von ihnen besetzen Territorium ein Staatsgebilde – einen Gottesstaat - zu errichten. Umfassen soll dieses Kalifat den Irak, Syrien, Libanon, Israel und Jordanien.
Seit wann gibt es IS?
Gegründet wurde sie 2003, anfangs unter dem Namen „Al-Kaida im Irak“ – damals bekannte sich die Miliz auch zu den Absichten der Al-Kaida und bekämpfte die Regierung unter Al-Maliki. Schon damals verübte sie bewusst Anschläge auf Zivilisten aus, später führte die Organisation mehrere spektakuläre Bombenanschläge durch, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Mit dem Abzug der US-Truppen 2011 im Irak und dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs begann der Aufstieg der Truppe, die immer radikaler vorging. Die Al-Kaida distanzierte sich Anfang des Jahres von IS – wegen ihrer „Sturheit und Brutalität“.
Wo operieren die Kämpfer?
Hauptsächlich im Irak und in Syrien, aber auch in Beirut (Libanon) wurden schon Anschläge verübt. In Syrien bekämpft IS hauptsächlich das Assad-Regime, seit kurzem aber auch andere Revolutionäre wie die Freie Syrische Armee. Seit Anfang 2014 hat IS unter den syrischen Rebellen keine Verbündeten mehr. Im Irak hat die Organisation 2014 eine Blitzoffensive gestartet und binnen weniger Tage die Stadt Mossul und anschließend die mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinzen Ninive, Salahaddin und Anbar im Nordirak eingenommen.
Was will IS?
Zunächst einen islamischen Staat in Irak, Syrien, Libanon, Israel und Jordanien, später auch darüber hinaus: Alle „modernen Grenzen“ zwischen dem Nahost-Staaten – also jene, die nach dem Ersten Weltkrieg gezogen worden waren – sollen dafür aufgehoben werden. Davon betroffen wäre auch Israel.
Welchen Glauben vertritt IS?
IS ist eine fundamentalistische, rückwärtsgewandte Strömung im Islam: Die salafistische Gruppierung fußt auf dem sunnitischen Glauben und stellt sich gegen jegliche „Neuerung“ innerhalb der Religionsgemeinschaft; IS tritt für den „puren Islam“ ein. Dementsprechend ist IS anti-westlich und erkennt keine andere Religion außer den sunnitischen Islam an. Um ihre Ziele durchzusetzen, wendet IS dschihadistische – also ausschließlich kämpferische – Methoden an.
Wie konnte IS im Irak so stark werden?
Im Irak hatten bis zum Jahr 2003 die Sunniten - obwohl eine Minderheit – mit Saddam Hussein die Herrschaft inne. Mit dem Einmarsch der US-Armee und dem Sturz Husseins verschoben sich die Machtverhältnisse in dem von drei Gruppierungen (Kurden, Sunniten, Schiiten) bewohnten Staat: Mit Premier Al-Maliki kam ein Schiit an die Macht, der die Befugnisse der Sunniten beschnitt – der Nährboden für die Kämpfer der IS. Seit dem Abzug der US-Truppen tritt IS noch ungehemmter auf.
Ein Bild Al-Malikis
Woher bekommt IS Geld?
Die Terrororganisation gilt als reichste Extremistengruppe der Welt – sie soll über 2 Milliarden Dollar Vermögen verfügen. Als Teil der Al-Kaida war sie in unzählige Entführungen verwickelt, die zum Teil große Summen einbrachten; zudem erpresst IS von vielen Irakern Schutzgeld. In Syrien und im Nordirak hat die Miliz Ölfelder erobert, sie soll mittlerweile in den globalen illegalen Öl-Handel eingestiegen sein. Im Nordirak hat IS zudem die Zentralbank überfallen, in der mehrere hundert Millionen Dollar gelagert waren.
Zudem heißt es, dass Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait und Katar IS finanziell unterstützen – weil die Sunniten-Gruppen den Einfluss des schiitisch geprägten Iran schmälern könnten. Beweise dafür gibt es nicht.
Woher rekrutiert IS die vielen Kämpfer?
Schätzungen zufolge hat die Miliz bis zu 20.000 Kämpfer. Viele von ihnen sind sunnitische Offiziere und Soldaten, die einst der Armee des gestürzten Diktators Saddam Hussein angehörten. IS hat zudem Gefängnisse überfallen, um inhaftierte Anhänger der Bewegung zu befreien. Auch aus anderen Ländern schließen sich Kämpfer an – vor allem aus Tsachetschnien, Ägypten, Pakistan und auch aus Europa.
Wer führt die Gruppe an?
Der Führer von IS ist Abu Bakr al-Baghdadi: Der 1971 geborene Iraker leitet die Terrororganisation seit 2010. Er hält einen Doktor der Islamwissenschaften und ist seit der US-Invasion im Irak in fundamentalistischen Terrororganisationen engagiert. Er steht auf der Liste der meistgesuchten Terroristen der Welt auf Platz zwei – auf ihn ist ein Kopfgeld von 10 Millionen Euro ausgesetzt. Seit 2013 lebt Al-Baghdadi in Syrien, dort operierte er gegen seinen Konkurrenten Aiman Az-Zawahari, den Führer der globalen Al-Kaida und meistgesuchte Terrorist der Welt. Im Juni 2014 wurde Baghdadi zum Kalifen des „Islamischen Staates“ ausgerufen und agiert seither als Befehlshaber der Muslime und oberster Führer des Staates.
Abu Bakr al-Baghdadi bei einer Ansprache
Wieso kann IS so schnell vorrücken?
Die Dschihadisten verfügen zum einen über hochwertiges Waffenmaterial, das sie erbeutet haben – viel davon stammt aus den USA. Zudem zielt die Bewegung speziell auf sunnitisch dominierte Gebiete ab, in denen sie bereits Rückhalt hat. Ihren Erfolg verdankt die Miliz aber auch ihrem besonders brutalen Vorgehen – und makabrer Propaganda: Man verbreitet über soziale Medien bewusst Fotos von enthaupteten und geschändeten Leichen, nährt seinen Ruf als besonders grausame Einheit. Körperlich oder psychisch kranke Menschen etwa sollen entführt und anschließend „benutzt“ werden, um Selbstmordattentate durchzuführen - diese Einschüchterungs-Taktik geht auf.
Wie unterdrückt IS die Bevölkerung?
Im IS-Herrschaftsgebiet basiert alles auf der Scharia – und auf einem 16 Punkte umfassenden Katalog, der das öffentliche Leben regelt. Verboten sind demnach Alkoholika, Tabakwaren und Drogen; auch öffentliches Tragen von Waffen ist untersagt – ebenso wie das Abhalten von Versammlungen. Frauen sind gezwungen züchtige und bedeckende Kleidung zu tragen und im Regelfall das Haus nicht zu verlassen.
Jesidische Bevölkerung auf der Flucht vor IS
Ist der „Islamische Staat“ eine Gefahr für Europa?
Das wird sich erst weisen. Die irakische Armee zeigt sich derzeit relativ machtlos gegen IS – und die Terrororganisation hat ihre Fühler nach Europa bereits ausgestreckt: Jener Mann, der im Mai 2014 einen Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel verübt hat, soll mit IS in Syrien kooperiert haben.
Auch in Österreich sind die Extremisten Thema: Mordaufrufe gegen die in Wien lebende Jesiden-Gemeinde haben den Verfassungsschutz alarmiert. Ermittelt wird gegen eine neu entstandene Szene radikaler Islamisten, die den IS-Kämpfern nacheifern.