Politik/Ausland

Kreuzigung als Beweis ihrer Ordnung

Die Strategen der radikal-sunnitischen Gotteskämpfer der ISIS sind offenbar Könner ihres Fachs – und der Propaganda. Erst überrollten sie trotz geringer Mannstärke weite Teile des Irak, dann folgte, exakt zum Beginn des Ramadan, der nächste Coup: ISIS riefen Sonntagabend per Audiobotschaft ein "Islamisches Kalifat" aus. Vorerst vom syrischen Aleppo bis zum irakischen Diyala – unter von ISIS-Dschihadisten verbreiteten Karten reicht das Kalifat ihrer Träume aber sogar bis ins Herz Europas: Österreich (siehe Grafik).

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Praktisch zeitgleich mit der 34-minütigen Aufnahme verbreitete ISIS im Internet auch die Übersetzungen auf Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch. Doch die Kernbotschaft ist simpel: Es sei die Pflicht aller Muslime, dem neuen Kalifen, ISIS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi, die Treue zu schwören. Auch wenn dies islamische Gelehrte aus aller Welt bestreiten. Sie lehnen dieses Kalifat ab.

Doch wer al-Baghdadi nicht folgt, wird bestraft. Und was das heißt, wurde ebenfalls zur gleichen Zeit über die sozialen Netzwerke geschickt: Bilder von gekreuzigten Menschen in Syrien. Es soll sich dabei um islamistische Rivalen der ISIS handeln, die deshalb ermordet und dann ans Kreuz geschlagen worden seien.

Entschlossenheit

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Für den Islamwissenschafter (Uni Wien ) Rüdiger Lohlker passt das ins Bild der ISIS. "Kreuzigungen werden gern als Beweis von ihnen verwendet, dass sie für ,Ordnung‘ sorgen. Sie stempeln Andersdenkende als Straßenräuber ab, und für diese ist es – nach einer Lesart des islamischen Strafrechts – legitim, dass sie gekreuzigt werden", sagt Lohlker im KURIER-Gespräch. Damit erreichten sie zwei Ziele: "Für Sunniten zeigen sie sich als entschlossene Kämpfer. Und zugleich verbreiten sie bei Andersdenkenden Angst gleich Terror."

Zugleich versuchten sich ISIS-Kämpfer auch humanitär zu zeigen: "In den von ihnen gehaltenen Gebieten in Syrien backen sie Brot und helfen bei der Krankenversorgung", so Lohlker. "Ihre Botschaft: Nur wer sich danebenbenimmt, bekommt unsere Macht zu spüren und wird meist sehr hart bestraft. Dabei wird jede Abweichung von den Regeln der Extremisten als Angriff auf die Organisation gesehen. Es kann aber auch schon reichen, auf der Straße zu rauchen. Oder als Frau, sich nicht völlig zu verschleiern."

Was von ISIS und deren Kalifat zu erwarten sei, dürfte den Zuständen in Afghanistan unter Taliban-Herrschaft ähneln, erwartet der Experte Lohlker. "Dort hatte Mullah Omar auch den Anspruch auf ein Kalifat und den Titel ‚Befehlshaber der Gläubigen‘. Deshalb wurde die Herrschaft der Taliban durchaus als Kalifat betrachtet." Düsterer Nachsatz: "Auch die Taliban in Afghanistan sind wieder im Vormarsch."

Und was erwartet Lohlker im Irak und Syrien? "In den von ISIS und ihren Verbündeten kontrollierten Gebieten werden sie ihr radikal-sunnitisches Herrschaftsgebiet einrichten. Und ich fürchte, sie werden dieses auch halten können." Lohlker erklärt, warum er so pessimistisch ist, obwohl von allen politischen Seiten in und auch außerhalb der Region Kampfansagen an die Gotteskrieger kommen: "In den letzten Jahren sind sämtliche Strategien im Irak von allen Seiten gescheitert. Ich glaube daher nicht mehr an die politische Intelligenz sämtlicher politischen Akteure in der Region."

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Abu Bakr al-Baghdadi ist seit 2010 der Anführer der radikal-islamischen Terrorgruppe ISIS. Skrupellos verfolgt der Iraker sein Ziel – die Errichtung eines grenzüberschreitenden Gottesstaates. Al-Baghdadi lebt seit 2013 in Syrien, wo er als Gegenspieler von El-Kaida-Anführer Aiman al-Zawahiri agiert. Sein Pseudonym Abu Bakr al-Baghdadi dürfte der selbst ernannte Kalif verwenden, seit er im Mai 2010 die Führung der irakischen Kaida-Miliz übernahm.

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Al-Baghdadis Machtanspruch gründet sich laut Spiegel online vor allem auf seine Biografie: Der Spross einer angesehenen Familie, die in direkter Linie vom Propheten Mohammed abstammen will, wurde 1971 in der historisch bedeutenden Stadt Samarra geboren. Dies lässt al-Baghdadi über dschihadistische Internetforen verbreiten. Zudem, so heißt es dort, soll er an der Universität Bagdad seinen Doktor in islamischer Theologie gemacht haben. Somit bringt der Iraker laut eigenen Angaben das ideale Rüstzeug für den Führer eines Gottesstaates mit. Kalif– diesen Titel trägt gewöhnlich ein Nachfolger des Propheten Mohammed, mit dem Anspruch auf die Führung aller Muslime.

Kalif ist das arabische Wort für "Nachfolger" – und einen solchen Nachfolger mussten die Führer der ersten muslimischen Gemeinden auf der arabischen Halbinsel finden, als der Prophet Mohammed, Gründer des Islam, gestorben war. Mit der Wahl dieses Nachfolgers beginnt 632 n. Chr. auch die erste Spaltung des Islam. Denn für die Schiiten war und ist dieser Nachfolger ein anderer, nämlich Mohammeds Schwiegersohn Ali, als für die Sunniten. Die aber übernehmen von da an den Titel Kalif. Die islamische Expansion beginnt.

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Als wenige Jahrzehnte später die in Damaskus residierende Dynastie der Umayyaden das Kalifat übernimmt, umfasst das Reich bereits den gesamten Nahen Osten und Teile Nordafrikas. Von jetzt an gilt der Kalif nicht mehr nur als Nachfolger Mohammeds, sondern auch als Stellvertreter Gottes auf Erden. Ab 750 n. Chr. wird Bagdad Sitz des Kalifats und Zentrum des Reiches. Dessen Ausbreitung bis nach Spanien wird von Machtkämpfen begleitet. Oft regieren mehrere Kalifen nebeneinander.

Das Osmanische Reich wird ab Beginn des 16. Jahrhunderts Zentralmacht der islamischen Welt. Es reicht bis vor die Tore Wiens. Die osmanischen Sultane beanspruchen den Titel Kalif schließlich für sich. Mit dem letzten Sultan, Mehmed VI., löst sich das Kalifat 1924 auf. Versuche späterer islamischer Herrscher, sich zum Kalifen zu machen, scheitern.