"Hundertschaft": Kiews provisorische Armee
Von Stefan Schocher
Morgenapell im fünften Stock des besetzten Gewerkschaftshauses in Kiew. Der Ton ist scharf: „Stillgestanden“, „rührt euch“ und „wegtreten“. Kommandant Jarosch korrigiert die Haltung seiner Leute, begradigt die Reihe. Soldaten nennt er sie. Das Quartier bezeichnet er als Kaserne. Er ist ein durchtrainierter, groß gewachsener Mann Mitte 30 aus der Ostukraine, trägt einen deutschen Kampfanzug, Schutzweste und ein Barrett der ukrainischen Armee. Bis zwei Uhr gibt er seinen Leuten schließlich frei – nach einer langen und ereignisreichen Nacht auf den Barrikaden und wenigen Stunden Schlaf.
Auf die Frage, ob er sich als Soldat sehe oder als Aktivist, sagt Jarosch: Eine „Hundertschaft“ kommandiere er, die „Bärenhundertschaft“, eine Einheit der „Nationalen Selbstverteidigungstruppen“. Und mit seinem Wissen als hochrangiger Reservist der Armee trage er schlicht dazu bei, diese Bewegung zu koordinieren um seinen Töchtern einen freien, demokratischen Staat zu hinterlassen. Und er ist sich des Sieges sicher. Lange erwartete neue Helme haben sie heute bekommen von den Freunden aus Iwano Frankiwsk in der Westukraine. „Es ist ein guter Tag“, sagt Jarosch: „Bessere Helme, ein Sieg und die Aussicht auf weitere Erfolge.“
Ein Sieg ohne Blut
In etwa um Mitternacht in der Nacht auf Sonntag waren die Nachrichten aus dem Walkie-Talkie Jaroschs zu einem pausenlosen rauschenden Stimmengewirr geworden: Auseinandersetzungen auf dem Europaplatz. Im Ukrainischen Haus haben sich Polizeieinheiten verschanzt. Dann werden sie von einer Menschenmenge umringt und angegriffen. Das Ukrainische Haus ist ein Ausstellungs- und Veranstaltungsort auf dem Platz zwischen der umfehdeten Gruschewskogo-Straße und dem Unabhängigkeitsplatz Maidan. Mythenumwoben. Von hier soll ein weit verzweigtes unterirdisches Gangsystem aus Sowjetzeiten direkt ins Regierungsviertel führen.
Bilder des Protests:
Jarosch koordiniert seine Leute und schickt die Reserve auf den Europaplatz. Später in der Nacht, nach Verhandlungen, räumt die Polizei das Gebäude – praktisch widerstandslos. „Sie sind gegangen, sie wussten, dass sie sonst zerfetzt werden“, sagt Jarosch. „Ein idealer Sieg weil kein Blut geflossen ist.“ Und: Rund ein Dutzend Polizisten sei vor dem Abzug in die Hand seiner Leute gefallen. „Wir verhandeln jetzt über einen Gefangenenaustausch“, so der Kommandant der deswegen auch keine bevorstehenden Eskalationen erwartet. Regierungsvertreter allerdings dementierten „Festnahmen“ von Polizisten und Verhandlungen.
Das klingt nach Krieg. „Es ist ein Krieg – wenn auch ein kleiner“, sagt einer von Jaroschs Leuten. Er freut sich über den neuen Helm und legt seinen alten Sowjet-Stahlhelm beiseite. Jarosch sagt: „Es war von dem Moment an ein Krieg, als es die ersten Toten gab.“
Am Sonntag vor genau einer Woche war die Lage in Kiew eskaliert, als einige radikale Gruppen versuchten, vor das Parlament zu ziehen und in der Gruschewskogo die Polizei angriffen. Die Einheit von Jarosch war an der Eskalation nicht beteiligt, aber gleich danach involviert, um die Truppen des Innenministeriums auf Distanz zum Maidan zu halten.
Mittlerweile stehen auf der Gruschewskogo mehrere Reihen meterhoher Barrikaden. Tagsüber ist es zumeist ruhig, abends gibt es kleinere Gefechte mit Wasser, Molotowcocktails und Steinen. Und vor allem Drohgebärden.
Knüppel, Eisenschilde, Molotowcocktails und Steinschleudern sind die Waffen in diesem Kampf. Aber einer der Männer auf den Barrikaden in der Gruschewskogo sagt: „Wenn das nicht reicht, werden wir auch schießen – immerhin schießen sie bereits auf uns.“ Und immer wieder kommen Menschen auch mit Mistgabeln oder Sensen.
Zumindest hat die Armee gestern verkündet, sich in der politischen Krise nicht einmischen zu wollen. Laut Verfassung ist das auch verboten.
Ministerium gestürmt
„Es ist ein Volksaufstand“, sagt Jarosch. Das verkompliziere die Sache, weil die Demonstranten an keine Struktur gebunden seien. Einige sagen offen, dass sie bereits Waffen tragen – zur Selbstverteidigung, wie immer betont wird. Das macht es für Leute wie Jarosch zu einer schwer zu koordinierenden Angelegenheit.
Am Sonntag versammelten sich erneut Zehntausende Menschen im Zentrum Kiews. Kurz nach Mitternacht verkündet die Opposition die Erstürmung des Justizministeriums (siehe Bericht unten).
In Kiew hat es minus 22 Grad – doch das scheint die Demonstranten am Maidan nicht zu stören: Im härtesten Frost kommen mehr und mehr Menschen auf den Unabhängigkeitsplatz in Kiew, um sich dem Protest gegen Präsident Janukowitsch anzuschließen. Die Barrikaden wachsen, nachts brennen Autoreifen – und im Regierungsviertel werfen Vermummte weiter Pflastersteine auf Sicherheitskräfte.
Die Aufständischen geben nicht klein bei. Das Angebot Janukowitschs, Oppositionelle wie etwa Vitali Klitschko oder Ex-Parlamentschef Arseni Jazenjuk mit Regierungsämtern zu versorgen, haben sie abgelehnt. Ein Sieg für die Oppositionellen, in zweierlei Hinsicht.
Immer mehr Siege
„Wir akzeptieren nur eine Lösung ohne Janukowitsch", sagt etwa Alexander Daniljuk. Der 32-jährige Wirtschaftsberater führt das Kommando im besetzten Agrarministerium am Kreschtschatik. Seine Bewegung Spilna sprawa (Gemeinsame Sache) gehört mit vielen neu entstandenen Gruppierungen zu den Triebkräften um den Maidan.
Die Demonstranten können neue Siege vorweisen: Sonntagvormittag erstürmten sie das von Sicherheitskräften genutzte Kongresszentrum in der Nähe des Europaplatzes; Tränengas, Molotowcocktails und Blendgranaten flogen. Die Demonstranten gewannen diese Schlacht, die Regierungstruppen zogen aus dem früheren Lenin-Museum ab. In den späten Abendstunden wurde das Justizministerium - weitgehend unbehindert - von Dutzenden Oppositionellen besetzt.
Es ist nur einer der Orte, an denen Janukowitsch die Kontrolle verliert. Auch im Westen der Ukraine formiert sich Widerstand. Es wurden Rathäuser besetzt, in Iwano-Frankowsk und Ternopol etwa erklärte man die Partei des prorussischen Staatschefs demonstrativ zur "verbotenen Organisation". In Winniza trat ein Richter aus Protest gegen die Inhaftierung von Demonstranten zurück. Die Urteile seien politisch motiviert, meinte er. Auch im Osten, wo die Bevölkerung tendenziell pro-russisch und bisher noch regierungsfreundlich eingestellt war, mehren sich die kritischen Stimmen.
„Die Mächtigen haben dem Volk den Krieg erklärt“
Am Maidan helfen indes Ärzte, Kosaken und Kirchenleute, das Chaos zu ordnen. Es sind Menschen jeden Alters, einfache Arbeiter, Mittelständler, Staatsbedienstete und Intellektuelle, die hier ausharren. Viele kommen aus dem proeuropäischen Westen des Landes. Und es sind Menschen ganz unterschiedlicher politischer Anschauungen, die sich vereinen. "Die Mächtigen haben dem Volk den Krieg erklärt", lautet eine Standardantwort auf die Frage danach, warum sie hier sind.
Geeint ist die Protestbewegung aber keineswegs."Die Opposition mit Klitschko und den anderen hat zu lange gezögert. Seit zwei Monaten sind die Massen auf der Straße - zeitweilig bis zu einer Million. Es wäre ein Leichtes gewesen, mit dieser Menge das Regierungsviertel zu stürmen und die Macht in die Hand zu nehmen", sagt etwa Daniljuk von der Volksbewegung Spilna sprawa.
Er und viele andere sind sich sicher, dass die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko die Revolution schneller zum Ziel geführt hätte. "Sie ist die einzige eigenständige Politikerin, die Janukowitsch wirklich die Stirn bieten kann. Deshalb hat er sie ins Gefängnis gebracht", sagt Daniljuk. Er sieht eine Zukunft nur mit ihr als Präsidentin.
22 einzelne Gruppierungen
Eine gesamtukrainische Konferenz der Kräfte auf dem "Euromaidan" - wie die proeuropäische Bewegung sich nennt - hat für den 1. Februar eine Sitzung in Kiew einberufen, um Neuwahlen vorzubereiten und Kandidaten für eine Regierung des Volksvertrauens zu bestimmen. 22 Einzelgruppierungen haben dazu eine Resolution unterschrieben. "Für die Morde und das Blutvergießen trägt Viktor Janukowitsch die persönliche Verantwortung", heißt es in dem Papier.
Viele auf der Straße sind für den "Kampf in der Hauptstadt" erst angereist, als es die ersten tödlichen Schüsse auf Demonstranten gab. Mit Knüppeln in der Hand, mit Helmen und Sturmmasken schimpfen sie, dass sie Janukowitsch nichts mehr glauben können. "Er ist ein Diktator", sagt der 37 Jahre alte Geschichtslehrer Michail Gurik aus Ternopol. Mit der Gewalt gegen das eigene Volk habe Janukowitsch die rote Linie überschritten. "Ich bleibe bis zum Sieg", sagt Gurik.
Auch Klitschko greift am späten Samstagabend auf der Protestbühne am Maidan die Stimmung auf: "Wir weichen nicht in Kiew und nicht in den Regionen." Überall im Protestzentrum hängen Plakate mit Janukowitsch und seinem Regierungschef Nikolai Asarow hinter Gitterstäben. Die Bildmontagen zeigen auch den Zeitpunkt der "Befreiung der Ukraine von der Diktatur": 2014.