Politik/Ausland

Humanitäre Hilfe: "Instrumentalisiert und politisiert"

Wieder einmal ein Anlauf. Montag-Abend sollte eine Waffenruhe in Syrien in Kraft treten. Damit, so der Plan, müssten an allen Fronten außer jenen mit dem IS sowie der Jabhat Fatah al-Sham (früher al-Nusra-Front) die Waffen schweigen. Die Hoffnungen wurden von einer Wortmeldung Assads abgeschwächt: Der bekundete seinen Anspruch auf das gesamte Staatsgebiet – wovon das Regime derzeit aber gerade einmal ein Viertel kontrolliert. Vor allem soll die Waffenruhe der geschundenen Zivilbevölkerung eine Atempause verschaffen. Ein Endlosthema in diesem Krieg, von dem vor allem Antoine Grand, Vize-Chef der operativen Einsätze beim Internationalen Roten Kreuz ICRC, zu berichten weiß.

KURIER: Man erhält den Eindruck, Menschenrechte werden zunehmend zur Verhandlungsmasse in Kriegen. Ist dem so?
Antoine Grand: Es besteht ein steigender Mangel an Respekt an vielen Orten. Wir haben besonders im Kontext mit Syrien gesehen, dass humanitäre Hilfe instrumentalisiert und politisiert wird. Mit dem Effekt, dass ein humanitärer Konvoi auf höchster politischer Ebene diskutiert werden muss,was nicht sein dürfte.

Woher diese Entwicklung?
Das müssen auch wir analysieren. Wie sich Kriege entwickelt haben. Aber wenn wir uns das Ausmaß an Zerstörung anstehen, die Art der Angriffe, den Anstieg von Angriffen auf Spitäler: das ist ein Trend. Steht das damit in Verbindung, dass Kriege in zunehmendem Maße in urbanen Regionen stattfinden? Steht es damit in Verbindung, dass wir es in immer langwierigeren Konflikten zu tun haben? Wir sind in Konflikten aktiv, die seit 20, 30 oder 40 Jahren anhalten. Das „warum“ bleibt eine offene Frage.

Aus der Distanz betrachtet sieht es in Syrien so aus, als gäbe es punktuell Fortschritte. Also Regionen, die evakuiert und Belagerungen die aufgehoben wurden. Ist das ein Fortschritt oder nur oberflächlich?
Ganz simpel gesprochen: Wir haben in diesem Jahr weitaus öfter über Frontlinien hinweg aktiv werden können als im vergangenen Jahr. Das ist ganz sicher ein Fortschritt. Sie können das aber natürlich auch negativ sehen: Je mehr Hilfe benötigt wird, desto mehr Leid besteht.

In Afghanistan hat sich mit der NATO-Mission ein Umstand abgezeichnet, der vielfach negativ gesehen wird: die Verbindung einer Militäraktion mit humanitärer Hilfe. Wurde so ein Beispiel gesetzt, das jetzt auf den ganzen Sektor zurückfällt?
Also wofür wir immer gestanden sind, ist eine klare Abgrenzung. Das exerzieren wir auch vor: Wir trennen uns klar ab von militärischen Akteuren. Wir arbeiten im selben Feld aber wir machen alles, um sicherzustellen, dass wir unabhängig und neutral bleiben. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Es dauert 20 Jahre, Vertrauen aufzubauen, und einen Tag, um es zu zerstören.

Das Resultat ist aber, dass viele Regionen nicht zugänglich sind. Kann es sein, dass die ICRC-Politik teils von der Kriegsrealität eingeholt wurde?
Wir müssen uns ständig anpassen und adaptieren. Manchmal sind wir Entwicklungen voraus, manchmal hinterher. Aber etwas, das sich seit 150 Jahren nicht verändert und bewährt hat, ist das Prinzip absoluter Neutralität, um Zugang zu ermöglichen. Armeen mögen keine Überraschungen. Wenn man neutral und berechenbar ist, werden sie einem vertrauen. Und wenn sie einem vertrauen, werden sie erlauben, ihren Posten zu passieren, um zu einem Dorf auf der anderen Seite einer Frontlinie zu gelangen. So einfach ist das.

Wie geht es Ihnen, wenn Politiker das Wort „humanitäre Intervention“ verwenden?
Ob jemand nun glaubt, dass sein Krieg gerecht ist oder nicht, die Genfer Konvention muss geachtet werden.