Ein Lotse durch die Weltpolitik ist tot
Von Andreas Schwarz
Er ist bis heute der längst dienende Außenminister in der deutschen Geschichte, hat mit Gorbatschow und Reagan verhandelt und maßgeblich zum Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung beigetragen. Sein Auftritt auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, als er im Herbst 1989 den dort Zuflucht suchenden DDR-Bürgern die freie Ausreise in die Bundesrepublik verkündete, zählte zu einem der Höhepunkte seiner Karriere.
"Mister FDP"
Er war der "Mister FDP", der wie kein anderer die deutschen Freidemokraten prägte und lenkte. Und der sie zu Beginn der achtziger Jahre von der Koalition mit der Helmut Schmidt-SPD im fliegenden Wechsel direkt in eine mit der Helmut Kohl-CDU führte. Seinen gelben Pullunder trug er übrigens nicht wegen der Parteifarbe. Aber er wurde zu einem Genscher-Markenzeichen, das später mehrfach für gute Zwecke versteigert wurde. Ein Exemplar liegt im Haus der Geschichte in Bonn.
Und er war bis ins hohe Alter ein brillant analysierender Welten-Beobachter. "Mein Rat ist, bei allen wichtigen Entwicklungen Russland einzubeziehen", sagte er im Herbst 2013 im großen KURIER-Interview. Russland habe im Zweiten Weltkrieg für den Sieg über Deutschland die meisten Opfer gebracht, sich danach damit getröstet, Osteuropa zu beherrschen. Bis zur deutschen Wiedervereinigung habe alle Welt auf Washington und Moskau geblickt – dann nicht mehr. Nun müsse man "den Eindruck vermeiden, auf Moskau komme es nicht mehr an".
In der Nacht auf Freitag ist Hans-Dietrich Genscher 89-jährig an einem Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Er hatte in den vergangenen Wochen an den Folgen einer Wirbelsäulenoperation zu leiden gehabt.
Genscher wurde am 21. März 1927 im heutigen Halle geboren. Zum Ende des Krieges NSDAP-Mitglied (per Sammelantrag ohne sein Wissen, wie er sagte) und im Kriegsdienst, später jahrelang an den Folgen einer Tuberkulose leidend, folgte eine juristische Ausbildung und ab 1952 eine schnelle Karriere in der FDP. Er schmiedete maßgeblich die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, in der er ab 1969 Innenminister wurde. Das blutige Ende der Geiselnahme bei den Olympischen spielen in München 1972 – Genscher bot sich vergeblich als Austauschgeisel für die israelischen Sportler an – konnte auch er nicht verhindern.
Unter Helmut Schmidt wurde er 1974 Außenminister und Vizekanzler, was er nach dem Wechsel seiner Fraktion zu Helmut Kohls CDU bis 1992 auch blieb.
Entspannungspolitiker
Der glühende Europäer ("Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine") stand für das Zusammenwachsen der damaligen EG (Europäische Gemeinschaft) und betrieb eine Entspannungs- und Dialogpolitik gegenüber der Sowjetunion, nachdem der legendäre NATO-Doppelbeschluss mit der Aufstellung von Atomraketen in Deutschland Moskau an den Abrüstungs-Verhandlungstisch gezwungen hatte.
Zunächst skeptisch gegenüber den Wiedervereinigungsplänen Helmut Kohls, verhandelte er nach dem Mauerfall die Umsetzung des deutsch-deutschen Großprojektes. Und handelte sich zum Ende seiner Karriere noch Kritik ein, als Deutschland gemeinsam mit Österreich die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien anerkannte – in weiser Voraussicht des folgenden Balkan-Dramas.
"Den guten Lotsen erkennt man an der ruhigen Hand und nicht an der lautesten Stimme", hat Hans-Dietrich Genscher einmal gesagt. Jetzt ist diese leise und inhaltsreiche Stimme verstummt.