Die Kredithaie täglich im Nacken
Es war der siebte Sinn seiner achtjährigen Tochter, der Yomi S. davon abhielt, "etwas Dummes zu tun, damit alles vorbei ist". Der Mittfünfziger hatte seit den 1980ern in einer Londoner Gemeindeverwaltung gearbeitet, bis sein Job einem Sparprogramm zum Opfer fiel. Zuerst hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten und Kreditkarten über Wasser, aber nach ein paar Wochen schon fehlte ihm das Geld für den Unterhalt seines in einer anderen Stadt studierenden Sohnes. Also nahm er zur Überbrückung schnell einen jener populären, astronomisch verzinsten kurzfristigen Zahltagskredite ("payday loan") auf.
Natürlich verpasste er die Rückzahlfrist, und bald schon musste S. weitere Kredite aufnehmen, um die Zinsen für den ersten bzw. den jeweils nächsten zu begleichen. Die Familie verlor ihr Haus, S. bekam Angstzustände, Depressionen, begann zu trinken. Eines Tages sagte seine kleine Tochter, sie würde sich nun eine Arbeit suchen, damit sie ihm helfen könne. "Ich habe die ganze Nacht geweint", sagt S., "denn das war das erste Mal, dass ich begriff, was für eine Auswirkung meine Geldnot auf meine Familie hatte."
Zahltagskredite
Die mit kaltem Schweiß getränkten Matratzen Großbritanniens sind der Schauplatz einer heimlichen Schuldenkrise, die in den offiziellen Preisungen des britischen Wachstumswunders nicht vorkommt. Diesen Herbst lag die Individualverschuldung im Vereinten Königreich schon bei umgerechnet 1,85 Billionen Euro, also ungefähr gleichauf mit der Staatsverschuldung, allerdings bei ungleich höherer Verzinsung: 5853 Prozent pro Jahr (!) waren es im Falle des größten Zahltagskreditanbieters Wonga, als der Financial Conduct Authority (FCA) diesen Herbst schließlich der Kragen platzte. Wonga musste umgerechnet 280 Millionen Euro Schulden von 330.000 Kunden abschreiben, deren Zahlungsfähigkeit nicht ausreichend geprüft worden war.
Zur Regulierung des außer Rand und Band geratenen "Payday Loan-Sektors" führt die FCA nun mit Anfang des neuen Jahres eine Zinsobergrenze von 0,8 Prozent pro Tag und einen maximalen Rückzahlbetrag in doppelter Höhe des Geborgten ein. Damit gehen erschwerte Zugangsbedingungen einher, die einen großen Teil der typischerweise zu den untersten Einkommensschichten gehörenden Kundschaft ausschließen werden.
Auch das hat allerdings seine problematischen Konsequenzen, denn das Umschulden von einem Wucherkredit zum nächsten ist für viele – so wie für Yomi S. – der einzige Ausweg. Mehr als die Hälfte der Zahltagskreditnehmer borgt sich ihr Geld für notwendige Ausgaben wie Lebensmittel, Miete, Gas, Strom und Wasser. Die eskalierende britische Individualverschuldung hat weniger mit Impulskäufen oder Sauftouren, als damit zu tun, was die Labour-Opposition einigermaßen griffig die "Cost of Living Crisis" (Lebenserhaltungskostenkrise) nennt.
Während Energie- und Wohnkosten nirgendwo in Europa so rapide gestiegen sind wie in Großbritannien, sind die Realeinkommen unbeeindruckt vom sogenannten Aufschwung beharrlich gesunken. Der Großteil der vielgerühmten britischen Rekordbeschäftigungszahlen rührt von einer sprunghaften Zunahme an Selbstständigen her, deren Durchschnitts-Jahreseinkommen seit 2008 um erstaunliche 22 Prozent gesunken ist.
Arbeiter auf Abruf
Unter den Angestellten wiederum stehen bereits anderthalb Millionen unter "Null-Stunden-Verträgen" auf Abruf bereit. Ohne Garantie auf Arbeit oder Einkommen. Am unteren Ende des Arbeitsmarkts hat sich indessen der gesetzlich festgelegte Mindestlohn zu einer Art Normeinkommen entwickelt, von dem aber keiner mehr leben kann. Dementsprechend machen die "Working Poor" bereits mehr als die Hälfte der britischen Bezieher von Sozialhilfe aus.
Und auch diese ist unter der derzeitigen Regierung mit ihrem Faible für demonstrative Härte gegenüber mutmaßlicher Sozialschmarotzerei eine ziemlich riskante Lebensgrundlage. Allein in den letzten zwei Jahren wurde – oft wegen bloßer Formfehler oder eines verpassten Vorstellungstermins – die Auszahlung von zwei Millionen Beihilfen eingestellt.
Wenn weder der Sozialstaat noch Wonga mehr helfen wollen, bleiben einerseits Kredithaie (laut dem Centre for Social Justice borgten sich im vorigen Jahr über 310.000 Briten am Schwarzmarkt Geld) und andererseits der Weg zur Food Bank. Allein der Trussell Trust, der größte, aber bei weitem nicht einzige Anbieter wohltätiger Essensausgaben, musste 2014 bereits 916.000 Menschen mit dem Notwendigsten versorgen. Sieben Mal so viele wie noch vor drei Jahren, im viertreichsten Land der Welt, der Heimat des Welfare State.
Tiefer in die Schulden
Die bittere Ironie daran ist, dass Schatzkanzler George Osborne heuer all dem drakonischen Sparen zum Trotz – nicht zuletzt wegen der sinkenden Lohnsteuereinnahmen – die angepeilte Reduktion des Defizits meilenweit verpasste.
Trotzdem verspricht nicht nur er, sondern auch Labour-Chef Ed Miliband, bis zum Ende des Jahrzehnts Budgetüberschüsse zu erwirtschaften. Austerität und Wachstum zugleich, das klingt gut. Was beide dabei nicht verraten, ist, dass die Briten sich den schwarzen Zahlen im Budget zuliebe selbst noch tiefer in die roten Zahlen stürzen sollen. "Um den für die derzeitigen Wachstumsvorhersagen nötigen Konsum aufrecht zu erhalten, werden die Privathaushalte wieder in signifikantem Ausmaß borgen müssen", schreibt Matthew Whittaker vom Thinktank "The Resolution Foundation". Das Office of Budget Responsibility sage voraus, dass die Schulden britischer Haushalte bis 2020 auf 184 Prozent des verfügbaren Einkommens steigen werden, "weit jenseits des Vorkrisenhochs von 170 Prozent". Eine Budgetsanierung finanziert mit den Kreditkarten der Bevölkerung. Was kann da schon schiefgehen?
Arm trotz Job: Immer Familien betroffen
Rasanter Anstieg Der Anteil von Familien unter der Armutsgrenze hat sich in Großbritannien seit den Achtzigerjahren mehr als verdoppelt und liegt bei 33 Prozent. Diese Familien können sich Grundlagen des täglichen Lebens, Essen, Wohnen, soziale Aktivitäten, nicht leisten.
Schlechte Bezahlung Von diesem Schicksal sind auch immer mehr Familien betroffen, in denen zumindest ein Familienmitglied einer regelmäßigen Arbeit nachgeht. Etwa die Hälfte von Großbritanniens 13 Millionen Bürgern unter der Armutsgrenze lebt in einer solchen Familie.