Politik/Ausland

Genscher: "Russland wieder einbeziehen"

KURIER: Herr Genscher, wenn Sie sich die Weltkarte anschauen: Welche Region macht Ihnen am meisten Sorgen?
Hans-Dietrich Genscher:
Natürlich die nah- und mittelöstliche Region.

Was ist die Sorge?
Die vor unkontrollierbaren Entwicklungen. Wir waren froh, dass es in den arabischen Ländern eine Öffnung zur Demokratie gibt, die Völker wollen nicht mehr bevormundet werden. Plötzlich haben wir verschiedene Krisengebiete, auch durch Einwirkungen von außen, alles kann sich schnell zu einem Flächenbrand entwickeln.

Etwa aus Syrien heraus.
Das, was wir an Schrecklichem dort erleben, kann keinen Menschen mit Verantwortung ruhig bleiben lassen.

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Der Weltpolizist USA funktioniert nicht, Amerika-Russland funktioniert nicht – wer kann das, wenn überhaupt, in den Griff bekommen?
Der Begriff Weltpolizist ist altes Denken. Die Weltordnung von heute gründet sich nicht auf Über- und Unterordnung, sondern auf Kooperation. Die USA und Russland müssen an ihre Verantwortung erinnert werden. Es gab Probleme, die zur Absage des eigenen Treffens Obama-Putin geführt haben, aber wenn es um Menschenleben geht, wenn es darum geht, ein schreckliches Morden zu beenden, dann dürfen die Probleme von gestern keine Rolle mehr spielen. Alle tragen Verantwortung für den Frieden. Diese Verantwortung ist umso größer, je größer ein Land ist. Eine Einigung ist immer möglich, man muss sie nur wollen.

Ist ein Militärschlag gerechtfertigt?
Orakeln darüber, was sein kann, erschwert nur die Chance für eine friedliche Einigung. Ein Militäreinsatz kann immer nur das allerletzte Mittel sein, und die Beachtung des Völkerrechts durch die Staaten ist so wichtig wie die Beachtung der Rechtsnormen durch jeden Menschen.

Eine Einigung müsste nach dem gescheiterten G20-Gipfel doch noch eine zwischen USA und Russland sein. Wie kann so eine Einigung ausschauen?
Das ist eine Frage des Interessensausgleiches. Die Sorge vor strategischen Verschiebungen hat schon manche Einigung verhindert. Und man muss im Gespräch herausfinden: Was ist für den Anderen wichtig. Wenn sie einen Streit haben zwischen zwei Menschen oder zwischen zwei Staaten, werden Sie nie zu einer Lösung kommen, wenn Sie nicht wissen, warum der Andere sich so verhält. Dann muss ich abwägen, kann ich ihm entgegenkommen, ja oder nein.

Sie haben die Zeit des Kalten Krieges erlebt – was ist heute anders am Verhältnis der beiden Supermächte? Die müssten sich doch leichter verständigen können als früher?
In der Tat: Wir sind mit Ende des Kalten Krieges in eine neue Weltordnung eingetreten. Sie ist eine Weltnachbarschaftsordnung. Früher war der Nachbar jemand, mit dem man eine gemeinsame Grenze hatte. Heute kann mich das, was woanders geschieht, auch ohne gemeinsame Grenze betreffen. Beispiel: Die Hypothekenkrise in den USA hatte Auswirkungen im letzten Dorf in Österreich, die atomaren Entwicklungen in Japan haben indirekte Auswirkungen nicht nur dort. In dieser Weltnachbarschaftsordnung trägt jeder globale Verantwortung, und alle sind gleichberechtigt und ebenbürtig, ob groß oder klein. Eine der ganz großen Leistungen von Frankreichs Präsidenten Giscard d’Estaing und unserem Kanzler Helmut Schmidt war Mitte der 70er-Jahre, dass sie für die weltwirtschaftliche Entwicklung gemeinsame Strategien entwickeln wollten – da wurde G 7 gegründet, USA, Kanada, England, Italien, Frankreich, Deutschland und Japan. Inzwischen hat sich die Welt fundamental geändert. Jetzt kommen die G 20 zusammen. In der neuen Ordnung haben die Großen nicht mehr Rechte als die anderen, aber eine größere Verantwortung. Diese neue Weltordnung ist multipolar. Dass alle sich einander ebenbürtig und gleichberechtigt nehmen müssen, gilt auch für die größeren.

Russland ist nicht mehr so gewichtig, wie die Sowjetunion einst war, trotzdem kann Russland im Sicherheitsrat jeden Beschluss blockieren – ist der Sicherheitsrat noch ein taugliches Instrument?
Unbedingt ja. Gehen Sie ruhig davon aus, dass Russland auch in Zukunft ein bedeutendes Mitglied der Staatengemeinschaft sein wird und ein wichtiger Nachbar für uns Europäer. Der Weltsicherheitsrat ist auch in Zukunft unverzichtbar, aber er muss anders zusammengesetzt sein. Er spiegelt die Welt von 1945 wider, nicht die von 2013. Die anderen Teile der Welt müssen dort vertreten sein. Um nicht missverstanden zu werden, ich lehne es ab, einen Sitz für Deutschland zu fordern. Einen Sitz für die EU allerdings halte ich für unverzichtbar. Natürlich können Frankreich und England als geborene Mitglieder bleiben.

Wie entwickelt sich Russland: In Richtung Demokratie, in Richtung Europa oder mehr in Richtung Asien?
Darauf hat der Westen einen nicht geringen Einfluss. Ich rate dazu, Russland auch in Zukunft als wichtigen Partner zu betrachten. Russland hat unter dem Zweiten Weltkrieg schrecklich gelitten und für den Sieg über Deutschland die meisten Opfer erbracht. Sie haben sich damit getröstet, dass sie danach Osteuropa beherrschten. Nur: Eines Tages beherrschten sie es nicht mehr, Deutschland war vereint. Früher blickte alles auf Washington und Moskau, heute nicht mehr. Mein Rat ist, bei allen wichtigen Entwicklungen Russland mit einzubeziehen. Das bedeutet nicht, sich von Moskau abhängig zu machen, aber es vermeidet den Eindruck, auf Moskau komme es nicht mehr an.

Gehen wir auf eine multipolare Welt Amerika, Europa, Russland, China zu, oder wird Europa immer kleiner und Amerika und China immer größer?
Wir sind eine multipolare Welt, und wir Europäer haben das auch verstanden. Bei Bush II war das anders. Ich behaupte allen Europa-Zweiflern zum Trotz, Europa ist die Zukunftswerkstatt für die neue Weltordnung. Wir haben aus der Geschichte gelernt, wir nehmen uns gegenseitig ernst, wir wollen uns nicht mehr gegenseitig beherrschen, wir haben uns gegenseitig gefunden. Und das wird auch weltweit notwendig sein.

Zurück zum Nahen Osten: Ist der Arabische Frühling gescheitert. oder braucht er einfach Zeit, so wie andere Umbrüche in früheren Jahrhunderten auch, und es wird noch etwas daraus?
Ich bin zuversichtlich. Die Verantwortung der Welt ist es, eine friedliche Entwicklung zu fördern, zu helfen, aber nicht postkolonialem Machtstreben zu erliegen.

Faktum ist: Überall, wo der Arabische Frühling zunächst erfolgreich war, sind in das Machtvakuum demokratiefeindliche Gruppen, Radikalislamisten vorgestoßen.
Da sieht man auch eine nicht geringe Auswirkung europäischer Kolonialpolitik. Dass diese Länder demokratische Entwicklungen nicht früher beginnen konnten, hat etwas damit zu tun, dass solche Entwicklungen durch koloniale Strukturen verhindert wurden, ja, dass man hochnäsig erklärte, „die sind ja gar nicht demokratiefähig“.

Trotzdem, wie geht man mit demokratiefeindlichen Elementen an der Macht um?
Das Wichtigste ist, dass man Exzesse vermeidet, wie sie jetzt in Syrien an den Tag treten.

Da ist auch immer wieder eine starke europäische Außenpolitik angesprochen – von der sind wir ja noch weit entfernt.
Eine gemeinsame europäische Außenpolitik ist wichtiger als eine starke. Und bitte nicht zu pessimistisch sein: Wenn Sie die gesamte Menschheitsgeschichte ansehen, ist die europäische Einigung eine einzigartige. Es ist ohne jedes Beispiel, dass Länder, die sich zum Teil Jahrhunderte bekriegt haben, ihr Schicksal total miteinander verbinden, Souveränität aufgeben, Entscheidungsmöglichkeiten aufgeben, sich solidarisch zueinander verhalten. Aber man darf Europa auch nicht überfordern, denn wir sind schon erstaunlich weit.

Aber die Telefonnummer, die Henry Kissinger anruft, wenn er eine europäische Position erfahren will, die gibt es – lässt man Frau Ashton beiseite – noch nicht.
Ich bin auch nicht sicher, ob es noch die eine Telefonnummer in Washington gibt. Dass der Präsident eine Entscheidung von großer Bedeutung in dieser Weise aufschiebt und vom Kongress abhängig macht, zeigt, dass es da auch schon verschiedene Telefonzentralen gibt.

Die Deutschen haben von der EU profitiert, aber sie zahlen auch, für Griechenland etwa. Tun Ihnen Demonstrationsfotos aus Griechenland mit Frau Merkel mit Hitler-Bärtchen weh?
Das ist eine Übersteigerung, die inakzeptabel ist. Aber es laufen ja nicht alle mit so einem Plakat herum. Wenn ich sehe, was die jetzige griechische Regierung an Entscheidungen treffen musste, ziehe ich – ich bin selbst 23 Jahre Mitglied in Regierungen gewesen – den Hut vor deren Mut und Kraft. Und ich ziehe den Hut vor dem griechischen Volk und seiner Fähigkeit zur Einsicht in das Notwendige.

War es richtig, dass die Griechen beim Euro dabei sind?
Ich war ein unbedingter Anhänger der Mitgliedschaft Griechenlands in der Europäischen Union. Aber beim Euro hätte man noch etwas warten sollen.

Wir werden Sie jetzt nicht fragen, wie die deutsche Bundestagswahl ausgeht ...
Ich werde es Ihnen trotzdem sagen: Die Koalition wird bleiben.

Und die FDP bekommt mehr als fünf Prozent?
Ja, wir haben eine schwere Zeit hinter uns, aber wir werden besser abschneiden, als viele denken.

Woran liegt es, dass die FDP nach dem Rekordergebnis bei der letzten Wahl (14,6 Prozent) in so ein tiefes Tal gestürzt ist?
Es ist zwei Wochen vor der Wahl nicht ratsam, über Fehler zu sprechen, aber sie hat schwerwiegende Fehler bei der Regierungsbildung und danach gemacht, das ist offenkundig. Aber bei den drei Landtagswahlen im letzten Jahr schnitten wir weit über den Erwartungen ab. Damit begann der Wiederaufstieg.

Wurde die FDP auch von „Mutti“ Merkel erdrückt?
Liberale kann man drücken, aber nicht erdrücken.

Frau Merkel macht einen guten Job?
Ja, sie ist eine hervorragende Bundeskanzlerin.

Die SPD hat Angst, in eine Koalition mit Merkel zu gehen und erdrückt zu werden.
Deshalb bin ich ja auch in der FDP.