Politik/Ausland

Kalifornische Momentaufnahme

Am Morgen danach im Cafe um die Ecke. Man kennt sich hier, ungewöhnlich für die Millionenstadt Los Angeles. Es war noch nie so still. An normalen Tagen wird beim Warten auf den Cappuccino über die neuesten Entertainmentnews gelacht, auf die hohen Immobilionpreise geschimpft und die neueste Diät diskutiert. Aber heute ist kein normaler Tag. Für fast alle ist eine Welt zusammengebrochen, ihre Welt. „Wir sind aus unserer Seifenblase gefallen“, sagt der Barrista, der im Gegensatz zu den meisten seiner Zunft in L.A. kein Schauspieler ist. „Wir haben die weisse Rechte unterschätzt, die nie darüber hinweg kam, dass acht jahre lange ein Schwarzer an der Macht war. Die haben sich jetzt gerächt. Wir haben den Rassismus unterschätzt.“

Er ist Collegeprofessor, unterrichtet an der UCLA und lebt seit über 40 Jahren in der Nachbarschaft. Er hat Venice, California als heruntergekommene Künstlerkolonie erlebt, und als Heimat der Surfer. Immer liberal, immer progressiv. „Bernie hätte gegen ihn gewonnen“, wirft die Besitzerin der kleinen Boutique ein. Sie meint Bernie Sanders, den skandalfreien Linken, der keine Emails gelöscht und niemals teure Reden für Goldman Sachs gehalten hat. Hätte, könnte, würde, das Leben im Konjunktiv, das nichts bringt, aber einigen ein Minimum an Trost spendet. Das und die Legalisierung von Marijuana in Kalifornien. „Zugedröhnt in die nächsten vier Jahre“, versucht der Kellner zu scherzen. Keiner lacht.

"‘Shell shocked’ nennt man das in Amerika"


Der Garten des Cafes wirkt wie ein Sanatorium. Leute sitzen schweigend herum, starren in ihre Handys oder starren bloss in die Luft. ‘Shell shocked’ nennt man das in Amerika, wie PTSD, posttraumatisches Stresssyndrom. „Ich wünschte, ich könnte ihnen sagen, dass alles wieder gut wird, dass wir so etwas schon öfter überstanden haben“, sagt er und deutet auf eine Gruppe junger Leute, die sich umarmen. Zwei Frauen weinen, ein junger Hipster wischt sich die Augen. „Aber das hier, das ist neu. Es ist der dunkelste Tag in der Geschichte Amerikas.“

Ein großes Statement, wenn man Pearl Harbor und 9/11 bedenkt. Der Vergleich mag hinken, ganz von der Hand zu weisen ist er nicht. Ich habe solche Szenen der kollektiven Depression, des Schocks nur nach dem 11. September und nach Hurricane Katrina erlebt. Ein Terrorangriff und eine Naturkatastrophe. Der große Unterschied ist, dass man bei beiden sofort danach mit dem Wiederaufbau beginnen konnte. Nicht erst vier Jahre später.