Fragen und Antworten: Türkei, der EU-Beitrittskandidat
Erst das massive Vorgehen Ankaras gegen Regierungsgegner, jetzt die Nazi-Vergleiche zu EU-Regierungen, die Wahlkampfauftritte türkischer Minister verhindern: Das Verhältnis der EU zu ihrem Beitrittskandidaten Türkei hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch verschlechtert.
In Europa werden die Forderungen nach einem offiziellen Stopp der Beitrittsverhandlungen lauter. Doch was wird dann aus dem Flüchtlingsdeal mit Ankara?
Wo stehen die Beitrittsverhandlungen?
Die Beitrittsverhandlungen mit Ankara laufen seit 2005. Sie wurden vor dem Hintergrund der Besetzung Nordzyperns durch türkische Truppen 1974 immer wieder durch das EU-Mitglied Zypern blockiert. Bisher wurden 16 von 35 sogenannten Verhandlungskapiteln eröffnet, in denen die EU-Standards für eine Mitgliedschaft festgelegt sind. Das Spektrum reicht vom Unternehmensrecht über Umweltschutz bis zum Rechtssystem.
Was haben die Beitrittsgespräche mit dem Flüchtlingspakt zu tun?
Für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise hatten die EU-Staats- und Regierungschefs Ankara beschleunigte Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt. Daraufhin wurde im Dezember 2015 erstmals seit zwei Jahren wieder ein Verhandlungskapitel eröffnet (Kapitel 17 zur Wirtschafts- und Währungspolitik). Es folgte im Juni 2016 ein weiteres (Kapitel 33 zu Haushaltsfragen). Der türkische EU-Botschafter Selim Yenel hatte noch im Sommer gesagt, er hoffe 2023 auf einen Beitritt der Türkei.
Wie hat die EU bisher reagiert?
Seit dem Putschversuch des Militärs Mitte Juli hat die türkische Regierung zehntausende Gegner und Kritiker verhaften lassen, darunter zahlreiche Richter, Staatsanwälte und Journalisten. Das Europaparlament hatte deshalb schon im November in einer Resolution "ein vorläufiges Einfrieren" der Beitrittsverhandlungen gefordert. Die EU-Mitgliedstaaten beschlossen dann im Dezember, vorerst keine weiteren Beitrittskapitel zu eröffnen.
Was ist der Unterschied zu einem offiziellen Stopp?
Die Gespräche zu den bereits eröffneten Verhandlungsbereichen laufen weiter. Voraussetzung für eine offizielle Aussetzung wäre "ein schwerwiegender und anhaltender Verstoß" gegen EU-Grundwerte wie Freiheit, Demokratie oder Menschenrechte. Der offizielle Stopp müsste von den Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Nötig wären mindestens 16 EU-Länder. Die Wiederaufnahme der Gespräche könnte dann nur durch einen einstimmigen Beschluss erfolgen.
Könnten EU-Mittel für Ankara gestrichen werden?
Die Türkei erhält wie die anderen Beitrittskandidaten Finanzhilfen, mit denen die Anpassung an EU-Standards erleichtert werden soll. 2014 bis 2020 sind dafür 4,45 Milliarden Euro vorgesehen, rund ein Drittel soll dabei in Projekte zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fließen.
Gestoppt werden können die Hilfen nur, wenn die Beitrittsgespräche offiziell ausgesetzt werden. Allerdings kann die EU auf die Bremse treten, Gelder umschichten und die Bedingungen verschärfen. Ausgezahlt sind bisher nur 167,3 Millionen Euro.
Droht bei einem Beitrittsstopp das Ende des Flüchtlingsdeals?
Auszuschließen ist das nicht. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat schon mehrfach gedroht, das vor einem Jahr mit der EU geschlossene Abkommen platzen zu lassen - weil die EU türkischen Bürgern bisher keine Visa-Freiheit gewährt und auch als Protest gegen die Resolution des Europaparlaments vom November.
Mit der relativen Ruhe über die Route nach Griechenland wäre es dann vorbei. Dort kamen zuletzt nur noch täglich rund 45 Flüchtlinge an, in den Monaten vor dem Flüchtlingspakt waren es durchschnittlich 1700 pro Tag.