Faktencheck: Wer beschoss den Bahnhof in Kramatorsk?
Eine Seriennummer auf den Überresten der Rakete soll einer der vermeintlichen Belege sein: Russland will mit Blick auf den verheerenden Angriff am vergangenen Freitag im ostukrainischen Kramatorsk seine Hände in Unschuld waschen. Moskau und prorussische Aktivisten setzen derzeit einiges daran, die Attacke auf einen Bahnhof mit mindestens 50 Toten als eine von Kiew gesteuerte Aktion darzustellen.
Die Behauptungen im Faktencheck:
Der Raketentyp
- Behauptung: Die Raketen vom Typ Totschka-U, deren Wrackteile in der Nähe des Bahnhofs gefunden wurden, würden nur von ukrainischen Streitkräften eingesetzt.
- Bewertung: Falsch. Auch Russland und dessen Verbündeter Belarus verwenden Totschka-U-Raketen.
- Fakten: Kiew und Moskau schieben sich derzeit gegenseitig die Verantwortung für den tödlichen Raketenangriff auf den Bahnhof in Kramatorsk zu. Zunächst hatten mehrere kreml-freundliche Kanäle auf Telegram sowie das Verteidigungsministerium den Angriff auf den Bahnhof für Russland reklamiert. Erst kurz darauf löschten oder bearbeiteten sie ihre Stellungnahmen und schwenkten auf ihre aktuelle Position um.
Sicher ist: Bei der Attacke wurde eine Totschka-U der Version 9K79-1 eingesetzt. Mehrere Staaten der ehemaligen Sowjetunion, darunter die Ukraine und Belarus, verfügen über diesen in den 1980er Jahren eingeführten Raketentyp.
Die russische Armee ersetzte zwar offiziell ihr Arsenal durch die neuere Iskander. Jedoch gibt es im Ukraine-Krieg mehrere Nachweise, dass Moskau noch immer die Totschka-U einsetzt. Bereits am ersten Kriegstag kommt es zum Beispiel nach Angaben der Hilfsorganisation Amnesty International zu einem russischen Angriff mit diesem Raketentyp auf ein Krankenhaus in Wuhledar. Zudem gibt es Berichte über Sichtungen russischer Totschka-U-Raketen in der Ukraine. Nach Erkenntnissen der US-Denkfabrik Institute for the Study of War ist eine im Donbass eingesetzte russische Einheit damit ausgerüstet.
Die "ukrainische" Seriennummer
- Behauptung: Anhand der Seriennummer auf der Totschka-U-Rakete lässt sich das Geschoss auf die ukrainische Armee zurückführen.
- Bewertung: Falsch.
- Fakten: Seriennummern wurden bei der Produktion zu Sowjet-Zeiten vergeben. Die Geschosse sind mittlerweile alt und in mehreren Staaten des ehemaligen Ostblocks sowie etwa in Syrien gelagert. Für die Behauptung, dass bei der Verteilung die Reihenfolge der Seriennummern eingehalten worden sei - wie prorussische Aktivisten behaupten, gibt es keine überzeugenden Belege.
"Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gibt es ein ,schwarzes Loch' von einigen Jahren, in denen keine Informationen darüber vorliegen, welche Raketen in welchen Ländern verblieben, oder welche Systeme nach Russland zurückgekehrt sind", erklärt Oberstleutnant Frederik Coghe von der Königlichen Militärakademie in Brüssel der Deutschen Presse-Agentur (dpa). "Seriennummern bedeuten nichts ohne die Listen, welche Seriennummern sich in welchen Ländern befinden."
Selbst direkt aufeinander folgende Zahlen müssten nicht zwangsläufig zu denselben Ländern gehören, sagt Coghe. Es könnte die 13 im ukrainischen, die 14 im belarussischen und die 15 im russischen Arsenal vorhanden sein. Es sei Zufall, welches Land welche Seriennummern erhalten habe, so Coghe.
Die Spuren am Fundort
- Behauptung: Die Raketenreste am Boden lassen den eindeutigen Schluss zu, dass die Totschka-U von ukrainisch kontrolliertem Gebiet abgefeuert wurde.
- Bewertung: Das ist nicht zweifelsfrei abzulesen.
- Fakten: Die Befürworter dieser Behauptung argumentieren mit der Ballistik. Der Raketenantrieb liegt weniger als 100 Meter südwestlich des Bahnhofs in Kramatorsk. Manche schließen daraus, dass die Rakete daher auch aus dieser Richtung hätte abgefeuert worden sein müssen. Jene Gebiete stünden unter der Kontrolle ukrainischer Streitkräfte.
Eine ballistische Rakete wie die Totschka-U beschleunigt nur in der Anfangsphase und fliegt dann antriebslos auf das Ziel zu. Dabei stürzt sie als Ganzes aus größerer Höhe auf das einprogrammierte Ziel. Bei etwas mehr als 2000 Metern Höhe über dem Boden wird bei der Totschka-U der Zünder im Gefechtskopf aktiviert, wie der Münchner Raketentechnik-Experte Markus Schiller der deutschen Presseagentur (dpa) erklärt. Dabei birst die Raketenspitze und rund 50 Einzelladungen - auch Kassetten genannt - sowie der leergebrannte Rest der Rakete stürzen zu Boden.
Während die aerodynamische Rakete bis dahin stabil geflogen ist, verliert nach der Detonation am Gefechtskopf der verbleibende Raketenkörper diese Eigenschaft. "Er segelt ungefähr wie ein Laubblatt zwei Kilometer nach unten", erklärt Schiller. Zwar werde durch Trägheit wohl noch ungefähr die Flugrichtung eingehalten, doch könne das Heck in alle Richtungen wegdriften. "Ich wäre also sehr vorsichtig damit, aus der Position des aufgeschlagenen Raketenkörpers tief gehende Rückschlüsse über die Flugrichtung zu ziehen."
Das unterstreicht auch Oberstleutnant Coghe. Zwar folge der Raketenkörper nach der Detonation in der Luft wohl seiner ursprünglichen Flugbahn. "Wie weit er genau fliegt, hängt von der Höhe der Detonation und der Art der Munition ab, mit der die Rakete bestückt ist", sagt der Experte aus Belgien. Man könne zwar zwischen dem Aufprallpunkt des Körpers und dem Gefechtsziel eine Linie ziehen, die die Richtung angebe. "Aber das ist keine exakte Wissenschaft."
Die Totschka-U 9K79-1 kann eine Reichweite von bis zu 120 Kilometern haben. Selbst wenn es so wäre, dass sie südlich bis südwestlich von Kramatorsk abgeschossen worden ist: Innerhalb ihrer Reichweite gibt es genauso russisch besetzte Gebiete. Die Stadt Donezk befindet sich im Süden 80 Kilometer Luftlinie entfernt. Und auch Gegenden etwa westlich von Donezk standen am 8. April unter dem Einfluss des Kreml.
Das heißt: Allein aus der Lage der Überreste am Boden kann nicht mit absoluter Sicherheit darauf geschlossen werden, dass die Rakete zwangsläufig von ukrainischen Streitkräften abgefeuert worden ist.