Stéphane Hessel gestorben
Wie französische Medien berichten, ist der französisch-deutsche ehemalige Résistance-Kämpfer, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, Diplomat, Lyriker und Essayist Stéphane Hessel in der Nacht auf den 27. Februar gestorben.
Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande hat in Stephane Hessel den Humanisten, engagierten Europäer und brillanten Diplomaten gewürdigt. "Er war ein bedeutender Mensch, der sein außergewöhnliches Leben der Verteidigung der menschlichen Würde gewidmet hat", erklärte Hollande in einer Pressemitteilung am Mittwoch. Seine Fähigkeit, sich zu empören, sei grenzenlos gewesen.
Er habe für die Rechte des Menschen gekämpft, gegen Vorurteile, Konformismus und Konservatismus. Er habe gezeigt, dass man keine Ungerechtigkeit hinnehmen dürfe. Das sei eine Lektion für uns alle.
Im Dezember 2011 führte KURIER-Redakteur Andreas Schwarz ein ausführliches Interview mit Hessel. Dieses finden Sie im Anschluss.
Er ist erst am Vorabend von Fernseh-Auftritten und Interviews aus Washington und New York nach Paris zurückgekehrt - Empörung gegen die Banken und das Finanzsystem ist dort gerade ein großes Thema, Tausende gehen seit Tagen auf die Straße. Gleich nach unserem Gespräch reist er nach Grenoble, Tags darauf dann nach Nizza, und Ende kommender Woche ist er in Wien, wo er auf Einladung von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer bei einer Veranstaltung im Parlament spricht.
Und Stéphane Hessel wirkt nicht einen Augenblick müde, sondern stets hellwach, sprudelnd, überquellend vor Energie.
Obwohl der Herr übernächste Woche 94 Jahre alt wird.
Der in Berlin geborene ehemalige Widerstandskämpfer der französischen Resistance, der auf abenteuerliche Weise das KZ Buchenwald überlebt und danach eine Karriere als Diplomat und UNO-Mitarbeiter in Sachen Menschenrechte eingeschlagen hat, ist seit einem Jahr nicht nur in Frankreich eine Art Popstar. Mit seinen kleinen Büchlein "Empört Euch" und "Engagiert Euch" hat er eine Millionenauflage erzielt und wurde zu einer Galionsfigur des internationalen Protests. Im KURIER-Interview erzählt er, wieso.
KURIER: Herr Hessel, Sie haben mit Ihren Büchern offenbar einen Nerv der Zeit getroffen. Woher kommt dieses Gefühl, plötzlich etwas bewirken zu wollen und - siehe den Arabischen Frühling - auch zu können?
Stéphane Hessel: "Empört Euch" wurde inzwischen in 30 Ländern übersetzt, und das liegt daran, dass wir seit 2008 in einer besonders kritischen Lage sind.
Sie meinen die erste Finanzkrise?
Ja. Niemand weiß, wer schuld ist, die Banken, die Bürger, die Kritiker wissen es nicht. Aber unsere Lage ist allseits spürbar einfach nicht so, wie wir es gerne hätten. Da trifft der Appell, sich zu empören, auf einen vorbereiteten, aber auch unvorbereiteten Boden.
Wieso unvorbereitet?
Weil die Menschen sind doch friedlich, sie wollen arbeiten, ihr Leben leben, und plötzlich sagt man ihnen: Ihr müsst euch empören, es geht nicht mehr so weiter.
Sie sagten einmal, "man muss sagen, ich will das einfach nicht mehr, ohne zu wissen, was danach kommt". Ist das nicht ein wenig naiv und planlos?
In Nordafrika bei den Tyrannen war das Ziel klar: Die müssen wir loswerden. Und entgegen den ersten Befürchtungen ist dem ja nicht die Regentschaft der radikalen Islamisten gefolgt. Aber in Frankreich oder in Österreich kann man nicht sagen, wir müssen die Tyrannen loswerden, wir sind ja demokratische Staaten.
Was müssen wir dann loswerden?
Die Verschlechterung der Demokratie. Die Demokratie ist nicht mehr so, wie wir sie uns wünschen. Und da muss es eben heißen: So, ich will das einfach nicht mehr.
Die Demokratie und unsere Gesellschaft waren früher besser?
Erinnern wir uns: Es gab gewisse Werte wie Sicherheit, unabhängige Medien, auch die Prämisse, nicht so abhängig zu sein von den Märkten. Die Fünfziger- bis Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts waren tatsächlich die 30 glücklichen Jahre. Nach der Ölkrise aber sind die Finanzmärkte immer stärker geworden. Die demokratischen Regierungen haben sich dagegen nicht genug gewehrt oder wehren können.
Und kämpfen deshalb jetzt um unser aller finanzielles Überleben?
So ist es, und gleichzeitig sagt man uns allen Ernstes, die sozialen Errungenschaften sind so nicht mehr zu finanzieren - wie kann das Geld dafür fehlen, wenn der Wohlstand doch um so viel größer ist, als er damals war, als Europa in Trümmern lag? Das, was jetzt passiert, läuft eindeutig gegen unsere demokratische Grundstimmung und Grundgesinnung. Das ist vielleicht nicht gleich bemerkbar, und das kann eine Zeit lang gut gehen, aber nicht lange.
Weil?
Wir, vor allem die jungen Leute, stehen gerade vor zwei ganz großen Gefahren: Das eine ist der wachsende Unterschied zwischen Armen und höchst Reichen. Und das andere ist die Ausbeutung der Erde, die ihre acht Milliarden Menschen schon heute nicht mehr ernähren kann. Und das Vertrauen, dass wir so weitermachen können, schwindet zusehends. Zumal wir eben eine ganz schlimme Krise vor uns haben oder gerade mitten drin sind.
Sie appellieren an das Engagement des Einzelnen -, aber was kann der tatsächlich tun und bewegen?
Sich empören und sich umsehen: Was sind die Gefahren, weil das weiß man, ohne sich umzusehen, nicht so leicht. Obwohl: Dass die Macht des Geldes so anmaßend und egoistisch ist wie bisher noch nie, dass sie Lobbyisten bis in die höchsten Staatsränge hat, das ist evident. Dass es den Gewinnmaximierern und den Bonibankern um alles, nämlich um sich, aber nicht um das Gemeinwohl geht, auch. Und dann muss man sich empören, sich engagieren und sich zusammentun. Am besten geschieht das natürlich über die Parteien.
Ausgerechnet über die Parteien, die an Ansehen zunehmend verlieren?
Ja, weil die sind unser demokratisches Vehikel. Es stimmt, die Jungen glauben nicht mehr so an Parteien. Aber dann müssen sich eben die Parteien reorganisieren, sich mit den Bürgern zusammentun, damit die Parteien auch wieder das werden können, was sich die Bürger wünschen: Vertreter ihrer Anliegen, auch ihrer Empörung. Und wenn das funktioniert, dann können auch die Parteien und kann die Politik viel mutiger gegen die Finanzmärkte auftreten.
Die Märkte werden, wenn ein paar Tausend Amerikaner auf die Straße gehen, nur müde lächeln.
Darum sage ich ja, empören ist nicht genug, der nächste Schritt ist engagieren. Ohne das geht gar nichts, das hat schon Jean-Paul Sartre gesagt, das sagen heute der Philosoph Peter Sloterdijk und andere. Nur dürfen es die Jungen nicht falsch verstehen, noch einmal: Der Defätismus zu sagen, die Parteien nützen ja ohnehin nichts, wir wollen unser Engagement außerhalb einsetzen wie zum Beispiel in Gruppen wie Attac, ist falsch. Dagegen gehe ich an. Wir müssen das über die demokratischen Parteien machen.
Wer sagt eigentlich, dass der, der sich empört, immer recht hat?
Das lässt sich relativ leicht an den Grundwerten überprüfen, ob sie die Empörung rechtfertigen. Da geht es nicht um die Empörung, dass der Autobus nicht mehr nach Plan fährt wie früher. Aber beim Bahnhofsbau in Stuttgart (Stuttgart 21, Anm.) haben die Bürger schon ein gewisses Recht der Mitentscheidung. Und die Proteste in Israel oder in Spanien, da ging es um zentrale Anliegen.
Zurück zur Finanzkrise: Wenn die Politik denn irgendwann, mit dem Rückhalt der Bürger, den Mut findet, gegen die Finanzmärkte aufzutreten - wie?
Die Diktatur der Finanzmärkte gefährdet Frieden und Demokratie, genau das, wofür Europa aufgebaut worden ist. Es ist klar: Wenn wir in Europa nicht zusammentreten, nicht eine starke Europa-Organisation bilden, wenn wir warten, bis das erste Land fällt, dann haben wir keine Chance. Europa fehlt eine gemeinsame Wirtschafts- und eine gemeinsame Industriepolitik ...
Also die viel zitierte europäische Wirtschaftsregierung?
Ja genau, es braucht diese Wirtschaftsregierung.
Aber gerade das ist es doch, was die Bürger nicht wollen: Der Trend geht ja eher gegen mehr Kompetenzen nach Brüssel.
Dieses Zusammenbleiben-Wollen, aber am liebsten doch allein, das muss eben überwunden werden. Das hat auch viel mit Erziehung zu tun. Das Nationalstaatliche ist ja auch gelernt - auch da müssen die Reformen ansetzen und die Bürger überzeugt werden. Es muss ihr Mitgefühl geschult werden: In einer solidarischen Welt können wir nicht allein kämpfen.
Das sagen Sie als Optimist oder eher als Pessimist?
Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Denn wir haben schon viel Schlechtes erlebt und überlebt, das Naziregime, den Stalinismus, die Teilung Europas mit der Berliner Mauer - das alles gibt es nicht mehr. Oder denken Sie an die Apartheid in Südafrika, die als unüberwindbar galt.
Sie sind in Deutschland geboren, wurden von den Nazis fast umgebracht, machten Karriere in Frankreich - und lieben die deutsche Lyrik. Wie das?
Seit frühester Jugend habe ich Gedichte geliebt, habe Hölderlin, Rilke, Hofmannsthal nicht nur gelesen, sondern auswendig gelernt - Gedichte wollen gesprochen und aufgesagt werden. Es ist der Schwung der Verse, geradezu die Musik eines Gedichts, die mich glücklich macht. Sie sind eine Dimension des Seins, die mir guttut.
Zur Person: Ein Überlebender, der Geschichte schrieb
Stéphane Hessel wurde 1917 in Berlin geboren. 1924 zog die Familie - der jüdische Vater Franz Hessel ist Schriftsteller, Mutter Helen Journalistin - nach Paris. Das Leben der Eltern diente als Vorlage für Buch und Film (Francois Truffaut) "Jules et Jim". 1941 schloss sich Hessel der Resistance gegen die deutsche Besatzung an, 1944 landete er im KZ Buchenwald. Als Spion zum Tode verurteilt, überlebte er, weil ihm ein Kapo die Identität eines Toten verschaffte (Jorge Semprúns Roman "Der Tote mit meinem Namen" erzählt davon); 1945 gelang Hessel mit neuem Namen die Flucht aus einem Zug nach Bergen-Belsen.
Nach dem Krieg wurde Hessel Büroleiter des Vize-UN-Generalsekretärs Henri Laugier und Sekretär der UN-Menschenrechtskommission, die die Charta der Menschenrechte erarbeitete. Im Auftrag der UNO und des französischen Außenamtes bereiste er die Welt, ihm wurde der Titel "Ambassadeur de France" verliehen.
Bücher Mit dem vor einem Jahr erschienenen Büchlein "Empört Euch" gelang ihm ein Millionen-Seller (der Text ist gerade einmal 20 Seiten lang), "Engagiert Euch" ist das Nachfolgebüchlein in Interviewform. Hessels Memoiren "Tanz mit dem Jahrhundert" sind jetzt auch auf Deutsch erschienen (List-Verlag). "O ma memoire" erzählt von der Liebe zu Gedichten, die ihm unentbehrlich sind.
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