Politik/Ausland

Einmarsch für Putin noch nicht vom Tisch

Die Zeit der Pflastersteine und Steinschleudern ist endgültig vorbei in der Ukraine. Die Ära der realen aber vor allem diplomatischen Gefechte ist angebrochen. Am Dienstag kam es auf der Halbinsel Krim, wo nicht identifizierbare, vermutlich russische Militäreinheiten Verwaltungsgebäude und ukrainische Militärbasen blockiert und besetzt haben, zu einem schweren Zwischenfall. Als rund 300 unbewaffnete ukrainische Soldaten mit einer ukrainischen Fahne die Hymne singend auf ihre blockierte Basis Belbek zugingen, fielen Schüsse. Warnschüsse. Der Zug kam zum stehen und wurde umzingelt. Schwere Maschinengewehre und schultergestützte Granatwerfer wurden ausgerichtet. Verletzte gab es zwar nicht, aber von einer in russischen Medien kommunizierten massenhaften Fahnenflucht ukrainischen Soldaten auf der Krim kann wohl kaum die Rede sein.

Am Dienstag meldete sich zu den Vorkommnissen in der Ukraine erstmals Russlands Staatschef Wladimir Putin zu Wort – und bekräftigte seine Position: Auf der Krim hätten "Selbstverteidigungskräfte" die Kontrolle übernommen, die russische Armee habe mit dem Aufmarsch nichts zu tun. Viktor Janukowitsch ist für Putin nach wie vor der legitime Präsident der Ukraine – auch, wenn er wohl keine politische Zukunft habe. Den Umsturz in Kiew nannte Putin einen "nicht-verfassungsmäßigen bewaffneten Putsch". Durch die Flucht nach Russland habe Janukowitsch sein Leben gerettet. Putin: "Ich denke, dass er dort getötet worden wäre."

Putin bestritt, Sezessionsbewegungen auf der Krim zu unterstützen. Ein Anschluss der Region an Russland sei nicht vorgesehen. Ein Referendum über die Unabhängigkeit der Krim unterstütze er. Die für Mai angesetzten Wahlen in der Ukraine hält Putin für nicht legitim. Diese würden in einer "Atomsphäre des Terror" stattfinden.

Zugleich richtete er eine Drohung an die Führung in Kiew, wo es "keinen adäquaten Gesprächspartner" für ihn gebe. Er hoffe, so Putin, dass es in der Ostukraine nicht zu einer Situation wie auf der Krim komme. Russland behalte sich alle Mittel zum Schutz seiner Bürger vor. Eine Truppenentsendung in die Ukraine sei legitim, wenn auch derzeit nicht notwendig. Schließlich gebe es ein Hilfsgesuch des ukrainischen Präsidenten.

Angst vor Provokationen

Befürchtet wird von vielen Ukrainern in Charkiw oder auch Donezk, dass gezielte Provokationen als Vorwand für einen Einmarsch dienen könnten. Beobachter in Charkiw melden einen steten Strom an Bussen, mit denen dieser Tage Tausende russische Bürger nach Charkiw gebracht werden.

Eine Intervention scheint vorerst aber nicht unmittelbar bevor zu stehen. Eine große Übung nahe der ukrainischen Grenze wurde beendet, die Einheiten in ihre Kasernen zurück beordert.

Am Dienstag reiste US-Außenminister John Kerry nach Kiew. Sozusagen als Einstandsgeschenk brachte er eine Mrd. Dollar mit, um offene Energierechnungen zu begleichen. Angedacht ist laut Weißem Haus auch, Experten zu entsenden, um die Revolutionsregierung in Finanzministerium und Zentralbank zu unterstützen. Auch die EU will die Ukraine mit einem Hilfspaket unterstützen. Am Mittwoch wird Kerry in Paris Russlands Außenminister Sergej Lawrow und die EU-Außenminister treffen.

Mitten in der Krise hat die ukrainische Führung Kontakt zur russischen Regierung aufgenommen. "Erste Schritte hin zu Konsultationen der Minister sind getan", sagte Premier Arseni Jazenjuk. Ein Thema seien die Schulden von zwei Milliarden US-Dollar für russische Gaslieferungen.

Mit Ende April wird die russische Gazprom der Ukraine Rabatte auf den Gaspreis streichen. Begründet wird das mit ausstehenden Rechnungen in der Höhe von 1,5 Mrd. Dollar. Zugleich bot die Gazprom der Ukraine einen Kredit über zwei Mrd. Dollar, um offene Rechnungen zu begleichen.

Druck und Gegendruck – und das in stetem Abtausch: Das ist das "Spiel", das sich Russland derzeit mit dem Westen liefert. Seit Tagen suchen die USA und EU adäquate Maßnahmen als Reaktion auf die Militäraktion von Kreml-Chef Wladimir Putin auf der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim.

Die EU hat noch keinen klaren Kurs gefunden – sind doch viele Länder vom Gas der Russen abhängig. Die Verhandlungen über eine visafreie Einreise in die EU könnten eingefroren werden. Am Donnerstag findet ein EU-Krisengipfel statt.

In den USA hingegen stehen viele Drohungen im Raum, als erste Aktion fror das US-Verteidigungsministerium in der Nacht zum Dienstag alle Kontakte zum russischen Militär ein. Eine zahnlose Maßnahme.

Washington drohte zudem Moskau wiederholt mit Handelssperren, dem Einfrieren von Vermögen, Reiseverboten und dem Rauswurf aus der G8-Gruppe (die sieben wichtigsten Industrienationen plus Russland). Die Vorbereitungen dazu laufen nach Angaben des US-Außenministeriums auf Hochtouren. Sollte Putin auf seinen Kurs bestehen, stellte US-Präsident Obama fest, dann drohe Russland weltweite Isolation. Denn eines sei klar: "Russland steht auf der falschen Seite der Geschichte."

Am Dienstag antwortete der Kreml seinerseits mit Drohungen gegen US-Wirtschaftsinteressen. Russland könnte den Dollar als Reservewährung aufgeben, Kredite an US-Finanzeinrichtungen nicht bedienen und allen, die US-Anleihen halten, zum Verkauf raten. Ein Check:

Wie groß sind die russischen Dollarreserven?

Im Februar hatte Russland Währungsreserven im Wert von 493 Mrd. Dollar (358 Mrd. Euro). Wie groß der Anteil an Dollar ist, geht aber aus den russischen Angaben nicht hervor. Die Währungsreserven – sie speisen sich vor allem aus den Gewinnen der Öl- und Gasexporte – bestehen nicht nur aus Devisen, sondern etwa auch aus Gold, Wertpapieren und Sonderziehungsrechten (vom Internationalen Währungsfonds eingeführte Währungseinheit).

Kann Russland damit die Märkte beeinflussen?

Finanzexperten halten dies für eine – wenig glaubwürdige – Drohkulisse. Moskaus Devisenreserven sind nicht groß genug, um den USA einen nachhaltigen Schaden zu verursachen. Zum Vergleich: China hält das Achtfache der Russen an Währungsreserven. Auch Japan hat mehr Gewicht in der Weltwirtschaft als Russland.

Was passiert, wenn Russland US-Anleihen abstößt?

Auch hier ist das russische Gewicht kaum ausreichend, um die weltgrößte Volkswirtschaft ernsthaft ins Wanken zu bringen. Selbst Belgien hält mehr US-Papiere als Russland. Und es gibt noch einen Haken für Moskau: Wirft Russland die Staatsanleihen in großem Stil auf den Markt, verlieren diese an Wert. Und dann droht Moskau ein riesiges Verlustgeschäft.

Was passiert, wenn Moskau die US-Kredite nicht zurückzahlt?

Das würde, versichern Experten , zum Bumerang für Russland werden. Denn das flächenmäßig größte Land der Welt muss sich reformieren und seine Rohstoff-Abhängigkeit verringern. Das geht nur mit ausländischen Investitionen. Diese gingen kaum mehr nach Russland, wenn es Verträge bricht und Kredite nicht mehr bedient.

Der international bestens vernetzte frühere Kohl-Berater Horst Teltschik sieht einen intensiven Dialog mit Russlands Präsident Putin in den vorhandenen Gremien wie G8 als einzig sinnvollen Weg aus der Krise. Der Ukraine rät er zu rascherer Legitimierung der neuen Kräfte und Föderalisierung.

KURIER: Außenminister Steinmeier sieht die "größte Krise Europas seit 1989". Sie waren damals ganz nah dabei: Ist es so dramatisch?

Na ja, er vergisst den russischen Einmarsch in Georgien 2008 und die Balkankriege, für uns ist das alles Europa. Wir hatten in der Wende eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur geplant, die Russland einbindet. Den Preis für deren Vernachlässigung seither zahlen wir jetzt.

Ist das noch nur ein Säbelrasseln Putins oder doch viel mehr?

Die Dramatik ist schon gegeben. Ich befürchte aber keinen heißen Konflikt. Es gibt jetzt zwei Handlungsebenen. Die eine, die überhaupt nicht mehr erwähnt wird, ist die innenpolitische der Ukraine: Jetzt müssen rasch ein Präsident und eine Regierung gewählt werden, die Verantwortung übernehmen. Derzeit ist alles nur provisorisch. Diese müssen entscheiden, ob die Ukraine geordnet in Richtung Föderation geht, mit Autonomie für die Regionen. Und der andere Fehler von Anfang an war: Wenn die Europäische Union die Zusammenarbeit mit der Ukraine ausweiten will, dann muss sie Russland immer mit einbeziehen.

Die Machtübernahme in Kiew durch demokratisch nicht legitimierte Kräfte und deren sofortiger Druck auf die russische 75-Prozent-Mehrheit der Krim, sind Putins Argumente. Sind sie mehr als nur formaler Vorwand?

Das Verständnis für Putins Vorgehen ist sehr begrenzt. Er hat die Sondereinheiten auf die Krim beordert, das ist eine Verletzung der Souveränität der Ukraine – obwohl Russland und auch er selbst einige Abkommen unterzeichnet hatten, die ihr volle Souveränität zusicherten. Der von Putin genannte Mob in Kiew ist aber wirklich schwer definierbar: Viele Ukrainer haben Waffen, das ist nicht neu. Daher kommt es jetzt darauf an, dass sich Putin und der Westen zusammensetzen und eine Regelung finden.

Kanzlerin Merkel drängt darauf, dass der Gesprächsfaden zu Putin nicht abreißt. Ist das vielversprechender als die Drohung mit seiner Isolation?

Ja, das ist absolut vernünftig. Merkel und Steinmeier sagen zu Recht, dass man auf dem G8-Gipfel hautnaher miteinander sprechen kann als sonstwo. Der OSZE-Ministerrat und der NATO-Russland-Rat treten ja komischerweise nicht zusammen. Beim Krieg in Georgien 2008 flog der amtierende EU-Präsident Sarkozy sofort nach Moskau: Er erreichte einen Waffenstillstand. Heute bildet die EU-Präsidentschaft bedauerlicherweise das schwache Griechenland. Das zeigt einmal mehr, dass die EU außenpolitisch handlungsfähig werden muss. Jetzt die noch vorhandenen Gremien infrage zu stellen, ist unsinnig.

Gibt es außer der raschen Föderalisierung der Ukraine noch kurzfristigere Optionen?

Nein. Das erste ist, dass die politischen Strukturen in der Ukraine rechtsstaatlich werden müssen, schneller als geplant. Und international müssen die Gremien, die man für solche Fälle geschaffen hat, einen Konsens finden.

Kommt die Zweiteilung der Ukraine in einen westlich und einen russisch orientierten Teil?

Nein. Weil meine Tochter sechs Jahre da gelebt hat, kenne ich viele Ukrainer: Auch im Osten will man keine Aufspaltung. Auch die Oligarchen dort wissen: Business mit Russland allein bringt sie nicht weiter. Sie brauchen beide Märkte, auch den vier Mal größeren der EU.

Wie fanden Sie Putins Pressekonferenz?

Er hat sein Drohpotenzial aufgezeigt und gesagt, er werde es nicht einsetzen, wenn sich die Situation für Russen nicht verschlechtert. Wir müssen dringend nachdenken, wie wir unsere Beziehungen verbessern können. Bisher haben wir uns auf "Putin-Bashing" beschränkt.