Politik/Ausland

"Das ist eine neue Merkel"

Oh boy!", sagt Judy Dempsey, wenn man sie nach der Macht Angela Merkels fragt. Lange schon beobachtet die Irin die deutsche Kanzlerin, sie ist Kennerin und Kritikerin zugleich. In ihrer Biografie über Merkel schrieb sie, die deutsche Kanzlerin regiere stets unter ihren Möglichkeiten, sei zu zögerlich, zu ungefähr. 2013 war das. Und jetzt? "Nein, definitiv nicht mehr", sagt Dempsey. "Was wir jetzt sehen, ist eine neue Merkel."

5634 Tage im Amt

Gerade mal ein Drittel der Deutschen dachte im Jahr 2000, dass die junge Ostdeutsche jemals eine Chance aufs Kanzleramt haben würde. "Kohls Mädchen", wie viele sie spöttisch nannten, hatte damals gerade den Übervater der Partei vom Thron der CDU gestoßen. Mittlerweile ist die Welt eine völlig andere: Seit zehn Jahren regiert Merkel die Republik. Und am Samstag steht sie einen Tag länger an der Spitze der Parte als ihr Gründervater – sie überholt Konrad Adenauer.

Der Rekord, den Angela Merkel hier einstellt, hat ohnehin Symbolkraft. Sie bricht ihn aber auch zu einem Zeitpunkt, in dem sich ihr politisches Leben verändert, wie Dempsey sagt. "Man hätte auch sagen können, dass Merkel in der Ukraine- oder in der Griechenlandkrise am Höhepunkt ihrer Macht war." Aber jetzt, mit der Flüchtlingskrise, ist ihr Einfluss in Europa so groß wie nie – und auch ihr Regierungsstil hat sich gewandelt. "Sie ist zwar noch immer sehr vorsichtig, will der öffentlichen Meinung nicht vorangehen. Aber jetzt war ihr Auftreten ganz anders. Sie ist ein großes Risiko eingegangen, war plötzlich mutig." Mit ein Grund, warum aus der "Eiskönigin", die in der Griechenlandkrise noch Häme samt Hitlerbärtchen hinnehmen musste, "Mama Merkel" wurde: Sie setzte Zeichen.

Das deutsche Beispiel

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Dass sie in Berlin und Brüssel lautstark für eine neue Willkommenskultur warb, war zwar wohl kalkuliert, aber nicht persönlich motiviert. "Merkel macht das nicht aus Eigennutz", sagt Dempsey, die als Senior Associate bei Carnegie Europe forscht. "Deutschland ist aufgewacht – denn die Krise ist eine tickende Zeitbombe." Merkels wichtigste Aufgabe ist es nun, das auch anderen klarzumachen. David Cameron habe sie schon ein wenig in die Knie zwingen können; dass sie auch Barack Obama überzeugen kann, sich mehr zu engagieren, sei entscheidend – auch für ihren eigenen Status. Ob das wahrscheinlich sei? "Ja. Das deutsche Beispiel ist ein enormes Plus. Und Obama hat nichts mehr zu verlieren."

Auch in ihrer Partei weiß man um die Funktion der Kanzlerin – und über die fatalen Konsequenzen ihres Scheiterns. Ihre Art, sich geschickt Ideen aus anderen Lagern anzueignen – Mindestlohn oder Energiewende etwa – hat die Partei für ein größeres Spektrum wählbar gemacht. Geht Merkel, fällt dieser Bonus weg: "Ohne Merkel gibt es keinen Erfolg für die CDU. Die Partei ist derzeit nichts ohne sie", sagt Dempsey. Dann drohe ein parteischädigender Machtkampf – denn ein Kronprinz hat sich neben Merkel bisher nicht etablieren können.

Loslassen

Das wird die 61-Jährige auch in Zukunft zu verhindern wissen. Denn als Kanzlerin will sie den Rekord Helmut Kohls einstellen; er saß immerhin 16 Jahre im Kanzleramt. Gelingt Merkel der Kraftakt in Brüssel, steht dem nichts und niemand im Wege – auch sie selbst nicht. Denn dass sie die Macht nicht loslassen kann, wie Adenauer oder Kohl es taten, hält Dempsey für höchst unwahrscheinlich. "Dafür weiß sie viel zu genau, was die Öffentlichkeit denkt."

Dass Horst Seehofer und Viktor Orban gut miteinander können, haben sie schon öfter gezeigt – einige Male war der umstrittene ungarische Staatschef schon zu Gast in Bayern. Auch in puncto Flüchtlingspolitik hat man nur Positives übereinander zu sagen: Seehofer, der in Bayern selbst mit dem hohen Flüchtlingsstrom zu kämpfen hat, konnte am international kritisierten Stil Orbans noch nie etwas Negatives finden – ganz im Gegenteil zu Angela Merkel.

Seehofer positioniert sich in dieser Frage schon länger deutlich weiter rechts als sie, lange mit ihrer schweigenden Akzeptanz, schließlich bedient die CSU ja eine Wählerschicht, die die CDU nicht gut erreicht. Jetzt hat Seehofer aber eines draufgesetzt: Der CSU-Chef hat erneut eine Einladung an den ungarischen Ministerpräsident ausgesprochen. Er will mit Orban "eine Lösung in der Flüchtlingsfrage" suchen – bei einer CSU-Klausur am 22. September im Kloster Banz. Merkel ließ er zudem ausrichten, dass er die Öffnung der Grenzen für in Ungarn gestrandete Flüchtlinge für einen Fehler halte: "Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen", sagte er im Spiegel.

In Berlin sieht man die Sache jedoch entspannt. Merkels Sprecherin meinte lapidar, alle Beschlüsse seien ja eigentlich "in Einigkeit mit der CSU" getroffen worden; schließlich sei sie Teil der Regierung. Initiativen Münchens würde man natürlich unterstützen; Merkel selbst werde dem Treffen aber nicht beiwohnen; sie habe genügend andere Gelegenheiten für bilaterale Kontakte mit Orban.