Der Tag, an dem in Kiew Lenin fiel
Von Stefan Schocher
Man kennt ihn aus Reiseführern. Vielleicht auch aus TV-Berichten. Am Sonntag knallte er mit dem Schädel voran unter tosendem Jubel hunderter Anwesender auf den Beton vor seinem Podest. Kiews Lenin ist Geschichte.
Hundertausende Menschen gingen am Sonntag in Kiew auf die Straße, um für den Sturz der amtierenden ukrainischen Regierung unter Präsident Janukowitsch und Premier Azarow zu demonstrieren. Die Lenin Statue am Bessarabska Rynok war von Anbeginn der Protestwelle in der Ukraine ein Ziel gewesen. Bereits vor einer Woche war es um das Standbild des Begründers der Sowjetunion zu Zusammenstößen gekommen.
Die Sicherheitskräfte waren in Kiew vor allem mit anderem beschäftigt. Ganze Straßenzüge im Regierungsviertel hatten Hundertschaften von Sondereinheiten des Innenministeriums abgeriegelt. Letztlich wurden sie belagert von Hunderttausenden, die mit patriotischen und EU-freundlichen Parolen durch die Straßen zogen. Ganz Kiew war auf den Beinen. Sogar in Außenbezirken waren die Sprechchöre der Protestbewegung in U-Bahnstationen zu hören.
Aus dem ganzen Land waren sie gekommen. Sowohl aus dem Osten als auch auch aus dem Westen. Gruppen aus Lemberg im Westen trafen auf Abordnungen aus dem Donbass, der Hochburg Janukowitschs. „Janukowitsch hat dieses Land verloren“, so ein aus Kiew stammender Demonstrant um die 20. „Und es wird ihm nicht gelingen, es jemals zurück zu gewinnen.“
Proteste am Sonntag in Kiew
Die Nachricht über den Fall Lenins auf dem Bessarabska Rynok sorgte für Jubelstimmung auf dem fünf Gehminuten entfernten Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit im Herzen Kiews. Der Platz ist besetzt und mit Barrikaden abgeriegelt. Politiker halten dort ihre Reden und die Menschenmenge wird mit Livemusik bei Laune gehalten. Während Paare tanzten, wildfremde einander in die Arme fielen und bereits der baldige Sturz der Regierung gefeiert wurde, waren andere besorgt. Tage und letztlich Jahre war um das Lenindenkmal gestritten worden. Die kommunistische Partei hatte um das Standbild über Jahr zu dessem Schutz sogar eine ständige Mahnwache installiert.
Um das Standbild postiert gewesen waren zuletzt Einheiten der regulären Polizei und nicht der umstrittenen Berkut, die sich durch schwere Übergriffe auf Demonstranten vor einer Woche ebenfalls zum Ziel der Proteste gemacht hat. Die mit Schlagstöcken und Schutzwesten ausgerüsteten Milizionäre beim Lenin machten nach dessem Sturz eine Rauchpause und blieben unbehelligt. Nur einige Demonstranten waren wild auf ein Bild mit ihnen. Und sie waren ebenso wild auf ein Stück Marmor eines Wahrzeichens, dass sie soeben gefällt hatten.
Sicherheitsbehörden haben inzwischen Ermittlungen gegen die Opposition wegen angeblicher Umsturzversuche eingeleitet. Ein versuchter Staatsstreich könnte mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis bestraft werden. Unklar bleibt vorerst, gegen wen die Justiz ermittelt.
Er ist ein an sich sehr stiller Mann. Aber am Sonntag in Kiew brüllt sich Valentin die Seele aus dem Leib. In der Früh ist er angekommen mit dem Zug, am Abend fährt er wieder nach Hause. Und am Montag wird er wieder in seinem Büro sitzen in der ostukrainischen Großstadt Kharkiv und Webseiten designen. „Wochenendrevolutionär“ nennt er sich. Mit Freunden ist er nach Kiew gekommen – um Freunde zu treffen. Leute, wie er sagt, die er seit 2004 nicht mehr gesehen hat, seit der Orangen Revolution.
„Es ist schon lustig“, sagt er, „neun Jahre danach sind wie wieder hier – nur haben wir heute Jobs und sind älter.“ An einer Ecke hat er sich postiert. Eine junge Frau kommt auf ihn zu, sie umarmen sich, beide lachen. Sie wegen des Bartes, den Valentin sich hat wachsen lassen. Er aus Verlegenheit.
Noch mehr Bekannte sollten kommen, aber schon zu Mittag ist kein Durchkommen mehr. Vom Maidan Nesaleshnosti, dem Zentrum des Protests, bis weit in den Prachtboulevard Kreschtrschatik eine einzige Menschenmasse. Ein Meer von Fahnen. Gekommen sind sie an diesem Sonntag aus allen Teilen des Landes. Auch aus Kharkiv, wie Valentin, und aus dem Donbass, der Hochburg der regierenden Partei der Regionen.
„Europäisches Land“
Es ist ein riesiger Chor, der immer wieder patriotische Lieder anstimmt. Auch Valentin singt mit. Gekommen ist er vor allem, weil er „nicht in einem Land leben möchte, in dem die Polizei ungestraft Menschen prügeln kann.“ So etwas dürfe man niemandem durchgehen lassen. Und freilich ist er auch da, weil die Ukraine ein „europäisches Land“ ist.
Später am Tag setzen sich Tausende Menschen auf dem Maidan in Bewegung, um vor das Regierungsgebäude zu ziehen. Demonstranten stürzen die Statue des sowjetischen Revolutionsführers Lenin, teilt die Polizei bald mit. Nach den Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Sondereinheit Berkut der vergangenen Woche, haben viele Demonstranten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Einige tragen Helme. Vor der Präsidialadministration stehen Sicherheitskräfte. Valentin hat sich zwei Hauben aufgesetzt. „Auch das dämpft Schläge“, scherzt er.
„Ich bin Optimist. Es wird gut sein am Ende. Wir werden siegen.“ Aber den größten Sieg, den habe die ukrainische Nation bereits errungen: Den, dass hunderttausende Menschen in Kiew und Millionen im ganzen Land auf die Straße gingen, weil sie von ihrer Regierung betrogen worden seien. „Dieses Land hat ein Rückgrat“, sagt Valentin. Dieser Tag beweist, dass es kaum gebrochen werden kann.