Brexit: Cameron empört über "widerwärtiges" Verhalten Johnsons
Der frühere britische Premierminister David Cameron hat den amtierenden Regierungschef Boris Johnson als politischen Opportunisten und prinzipienlosen Populisten kritisiert. Johnson habe sich vor dem Brexit-Referendum 2016 aus rein egoistischen Motiven als glühender Verfechter eines britischen EU-Austritts inszeniert, heißt es in einem Auszug aus Camerons Memoiren, den die Sunday Times im Voraus veröffentlichte.
Sein Parteikollege habe sich "widerwärtig verhalten, die eigene Regierung attackiert, das miese Vorgehen des eigenen Lagers ignoriert" und sei ein "Aushängeschild des wahrheitsverdrehenden Zeitalters des Populismus geworden". "Boris hat etwas unterstützt, an das er selbst nicht glaubte", heißt es im Vorabdruck aus dem Buch mit dem Titel "For the Record" (Fürs Protokoll), das Cameron kommende Woche veröffentlichen will. "Er hat einen Ausgang (der Volksabstimmung) riskiert, an den er selbst nicht glaubte, um seine politische Karriere zu befördern."
Gleiches halten Kritiker indes auch Cameron vor, der 2016 vergeblich für einen Verbleib Großbritanniens in der EU geworben hatte: Sie werfen ihm vor, das Referendum damals leichtsinnig angesetzt zu haben, um seine politische Macht zu sichern - und damit große Mitschuld an den weitreichenden Brexit-Folgen zu tragen, mit denen sich das Vereinigte Königreich nun konfrontiert sieht.
Johnsons Pläne "nach hinten losgegangen"
Cameron hält ein zweites Brexit-Referendum für möglich. "Ich glaube, man kann es nicht ausschließen, weil wir in der Klemme stecken", sagte der konservative Politiker in einem Interview der Times. Er unterstütze weder die von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments noch den Fraktions-Rauswurf von 21 Tory-Abgeordneten, die gegen die Regierung gestimmt hatten, sagte Cameron. Beides sei "nach hinten losgegangen". Auch einen EU-Austritt ohne Abkommen, wie von Johnson angedroht, halte er für keine gute Idee.
Die beiden Männer verbindet eine langjährige, von starker Konkurrenz geprägte Beziehung. Sie kennen sich bereits aus Schultagen im Elite-Internat Eton - und die Rivalität scheint noch immer nachzuwirken. Erst vor Kurzem war ein aktuelles Regierungsdokument an die Öffentlichkeit gelangt, in dem Johnson seinen Vor-Vorgänger als "mädchenhaften Streber" bezeichnet.
Cameron war nach dem Brexit-Votum der Briten im Jahr 2016 zurückgetreten. Er hatte das Referendum im Wahlkampf 2015 versprochen, um dem euroskeptischen Flügel der Konservativen sowie den EU-Gegnern der UKIP den Wind aus den Segeln zu nehmen. Cameron hatte für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union geworben, unterlag aber knapp den Befürwortern eines Austritts, zu deren Wortführern Johnson gehörte.
Kein Tag, an dem Cameron nicht an das Referendum denke
In seinen Memoiren verteidigt Cameron nach eigenen Angaben seine Entscheidung, das Volk über die britische EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. "Die Frage musste geklärt werden, und ich dachte, das Referendum kommt (sowieso)." Auch mehr als drei Jahre nach seinem Rücktritt vergehe kein Tag, an dem er nicht über die verlorene Volksabstimmung nachdenke, räumte er ein. "Ich mache mir große Sorgen darüber, was als nächstes passieren wird."
Johnson zeigt Zuversicht
Johnson äußerte sich indes "sehr zuversichtlich" zu einem möglichen Brexit-Abkommen. Er habe "große Fortschritte" im Ringen um eine Einigung mit der EU gemacht, sagte der Regierungschef am Samstag der Zeitung Mail on Sunday.
Bis zum Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 17. Oktober sei "noch viel Arbeit nötig", sagte Johnson demnach. "Aber ich werde zu diesem Gipfel fahren und eine Einigung erzielen. Ich bin sehr zuversichtlich. Und wenn wir keine Einigung erzielen, treten wir am 31. Oktober aus."
Vergleich mit "Hulk"
Im Interview wählte Johnson ein ungewöhnliches Bild, indem er Großbritannien mit einer berühmten Comic-Figur verglich - dem Wissenschafter Bruce Banner, der sich in ein muskelbepacktes Monster namens "Hulk" verwandelt, wenn er in Rage gerät. "Banner mag Handschellen tragen", sagte Johnson der Zeitung, "aber wenn man ihn provoziert, sprengt er sie. Hulk ist immer entkommen, egal wie eng gefesselt er war - und so ist das auch mit diesem Land. Wir werden rausgehen am 31. Oktober, und wir werden es vollbringen."
Johnson hofft darauf, dass die EU noch einlenkt und vor allem bei den umstrittenen Regelungen zur Grenze zwischen Irland und Nordirland zu Änderungen an dem vom Parlament in London abgelehnten Austrittsabkommen bereit ist. Brüssel lehnt Zugeständnisse bisher ab und wirft London vor, keine neuen Vorschläge vorgelegt zu haben.
Beratungen mit Juncker
Die nächste Etappe nach dem Arbeitsessen mit dem scheidenden EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Luxemburg am Montag sieht dagegen etwas weniger spektakulär aus. Am Dienstag beginnt die Anhörung vor dem obersten britischen Gericht zu der Frage, ob die von Johnson auferlegte fünfwöchige Zwangspause des Parlaments rechtmäßig ist. Ein schottisches Gericht hatte zuvor die Schließung bis zum 14. Oktober für unrechtmäßig erklärt und Johnson vorgeworfen, die Abgeordneten kaltstellen zu wollen.
Johnson will sein Land unbedingt am 31. Oktober aus der EU führen. Der britische Premierminister hofft darauf, dass die EU noch einlenkt und vor allem bei den umstrittenen Regelungen zur Grenze zwischen Irland und Nordirland zu Änderungen an dem vom Parlament in London abgelehnten Austrittsabkommen bereit ist. Brüssel lehnt Zugeständnisse bislang ab und wirft London vor, keine neuen Vorschläge vorgelegt zu haben.