Politik/Ausland

"Zur alten Wunde ist eine neue hinzu gekommen"

Wie sie sich gefühlt hat, als sie davon erfahren hat, das kann Dorothea Strauß kaum mehr sagen.

"Man kann das schlecht beschreiben", sagt sie.

Danach verstummt sie kurz, blickt auf den Boden des Kirchenraums. Es ist ruhig, vor einigen Minuten ist die Andacht zu Ende gegangen, die die Pfarrerin gehalten hat; da hat sie davon gesprochen, dass man "nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann", dass "das Grauen und überfallen hat." Vor der Tür der Kirche haben am Montag zwölf Menschen ihr Leben verloren, Dutzende wurden verletzt, als der Attentäter den Lkw direkt in die Menschenmenge lenkte.

"Viele Menschen möchten etwas tun"

"Ich habe durch Anrufe davon erfahren", sagt Strauß; selbst hier gewesen sei nicht, als es geschah. Aber sie sei danach natürlich gleich hergekommen, und seither sei sie fast immer da. Die Gedächtniskirche mit im westlichen Herzen der Stadt, für die die 55-Jährige erst seit diesem Frühling zuständig ist, ist durch den Anschlag zur Anlaufstelle für alle geworden, die in ihrer Trauer nicht allein sein wollen. "Viele Menschen möchten etwas tun", sagt Strauß und deutet auf die lange Schlange vor dem Kondolenzbuch. "Das hat etwas Heilendes."

Stadt der Atheisten

Nicht nur die Gedächtniskirche, auch die anderen Gotteshäuser der Stadt sind in diesen Tagen voller als sonst. In der Stadt, in der so viele Atheisten leben, in der 64 Prozent, wie sie selbst sagen, an keinen Gott glauben, suchen nicht nur wegen Weihnachten viele Menschen den Weg dorthin. "Das hat nicht mit Religion oder Konfession zu tun", sagt Strauß; die Frage danach kann sie ohnehin nicht nachvollziehen. "Es geht um das Gefühl, ,Ich bin nicht allein', sagt sie. Das zu vermitteln sei schließlich auch die Aufgabe der Kirchen, jetzt und generell: "Seelsorgliche Intervention", nennt die Theologin das, das Türen-Offenhalten für jene, die Ansprache brauchen.

Wie diese Ansprache aussieht, kann man an den vielen Gesprächen beobachten, die das Team der Kirche in den vergangenen Tagen führt. Wie etwa mit jener Frau, die Pfarrerin Strauß nach ihrer Andacht vor der Kirche anspricht, und die erzählt, wie sehr das Attentat sie an den Weltkrieg erinnere. Als Kind sei sie im Keller gesessen, während der Bombenhagel über der Stadt niedergegangen war; jetzt träume sie wieder davon, sagt die Frau. Strauß schließt sie daraufhin in die Arme.

Zentrum des Westens

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"Jemand hat uns geschrieben: Zu der alten Wunde ist eine neue hinzugekommen", sagt die Pfarrerin. Dass der Anschlag sich genau an der Gedächtniskirche ereignet hat, scheint ja auch kein Zufall. Die Kirche mit ihrem zerstörten Kirchturm, der die "alte Wunde offen hält", wie die Pastorin sagt, ist seit dem Krieg ein Ort des Gedenkens und "ein Mahnmal gegen den Krieg". Das dürfte auch dem Terroristen Anis Amri bewusst gewesen sein. Der Platz mitsamt der Kirche ist nicht nur beliebtes Postkartenmotiv, sondern gilt seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch als Zentrum des liberalen "Neuen Westens". Damals war er Konterpart zum proletarisch geprägten Alexanderplatz und zum Gendarmenmarkt, dem Zentrum der preußischen Ära; und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er schnell zu jenem Ort, mit dem man westliche, kapitalistische Werte den sozialistischen hinter der Mauer gegenüberstellte. Das Europa-Center am Platz, mittlerweile ein optischer Anachronismus, war das erste Einkaufszentrum Deutschlands, die 1959 neben dem Kirchturm erbaute neue Kirche mit den blauen Glasziegeln steht seither für Ökumene und Weltoffenheit.

Polizeischutz

Eben jene Offenheit will sich man in der Gedächtniskirche trotz des Anschlags bewahren. Bisher gab es deshalb außer bei Besuchen hochrangiger Politiker auch keine Durchsuchungen, bevor man den Kirchenraum betrat. Erhöhten Polizeischutz gibt es ohnehin in der ganzen Stadt, zu Weihnachten wurden die Kirchgänger zudem aufgefordert, keine großen Taschen oder Rucksäcke mitzunehmen – für viele ist das ganz selbstverständlich.

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Selbstverständlich ist für Strauß auch, dass die Kirche ein Ort bleibt, an dem man sich geborgen fühlt, vor allem in einer Zeit, in der viele ihren Nächsten mit Argwohn begegnen. Der Trauergottesdienst nach dem Anschlag wurde deshalb ganz bewusst als ökumenische Messe abgehalten, Muslime, Juden, Menschen verschiedensten Glaubens waren hier. Damit wollte man ein Zeichen setzen: "Ausländerfeindlichkeit ist nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben", sagte auch Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche.

In den Tagen nach dem Anschlag suchten deshalb auch Menschen verschiedenster Konfession den Weg in ihre Kirche, sagt Strauß. "Franziskanische Kollegen" und Nonnen seien hier gewesen, hätten ihre Hilfe angeboten, erzählt sie. "Auch chaldäische Christen waren kürzlich da", fügt sie dann noch lächelnd hinzu; die Katholiken leben zumeist im Irak, in Syrien, in der Türkei, viele von ihnen sind in den letzten Jahren geflohen. "Sie haben spontan zu singen begonnen. Sie wollten zeigen, dass sie Berliner sind", sagt Strauß.

Sie sagt das mit starkem baden-württembergischen Akzent. Gläubig, nicht-gläubig, Berliner, Nicht-Berliner. Hier in der Gedächtniskirche ist das völlig egal.