Politik/Ausland

Beben in deutscher Unionsfraktion: Kauder gestürzt

Die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel musste bei der Wahl des Unions-Fraktionsvorsitzenden überraschend eine Schlappe hinnehmen. Ralph Brinkhaus wurde am Dienstag zum neuen Vorsitzenden der Unions-Fraktion im Bundestag gewählt. Der 50-jährige Finanz- und Haushaltspolitiker setzte sich bei der geheimen Wahl gegen Amtsinhaber Volker Kauder durch, hinter den sich Merkel gestellt hatte.

Für Brinkhaus stimmten nach Angaben von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt 125 Parlamentarier, für Kauder 112. Es gab zwei Enthaltungen. Kauder war der offizielle Kandidat sowohl von Merkel als auch von CSU-Chef Horst Seehofer. Auch Dobrindt unterstützte den Baden-Württemberger. Die Abstimmung galt daher auch als Test für die Autorität der drei Spitzenpolitiker. Kauders Sturz gilt vor allem als Schwächung für Merkel. "Das ist ein Aufstand gegen Merkel", twitterte der SPD-Politiker und stellvertretende Bundestagspräsident Thomas Oppermann.

Für Fraktionsvorsitz gebrannt

Der CSU-Politiker Hans Michelbach erklärte: "Die Fraktion hat mehr Lust auf Teilhabe und eine Stärkung der Regierungsarbeit." Die Wahl von Brinkhaus sei ein Zeichen "für einen neuen Aufbruch". Der CDU-Politiker Gunther Krichbaum sagte: "Das war natürlich ein Beben in der Fraktion, gar keine Frage." Brinkhaus habe förmlich für den Fraktionsvorsitz gebrannt. Auch Krichbaum sprach von einem Signal des Aufbruchs, das die Fraktion senden wollte.

Der aus dem ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück stammende Brinkhaus hat sich als Finanz- und Haushaltsexperte der Fraktion einen Namen gemacht und präsentierte sich in den vergangenen Wochen als Alternative zu Kauder. In einer kurzen Erklärung direkt nach seiner Wahl sagte Brinkhaus, jetzt gehe es darum, ganz schnell wieder zur Arbeit zurückzukehren. "Dann sind wir morgen auch wieder dabei, das zu tun, was die Menschen von uns erwarten, nämlich an der Sache zu arbeiten." Er freue sich riesig über das Wahlergebnis. Dobrindt gratulierte Brinkhaus bei dem gemeinsamen Auftritt im Reichstag "ganz ausdrücklich". Beide dankten Kauder für dessen Arbeit als Fraktionschef während der vergangenen 13 Jahre.

Erfüllungshilfe der Kanzlerin?

Kauder haftete das Image an, er sei mehr Erfüllungsgehilfe der Kanzlerin als Chef einer selbstbewussten Unionsfraktion, die sich notfalls auch einmal gegen die Bundesregierung stellt. Ganz bewusst hatte Brinkhaus deshalb mehr Eigenständigkeit der Fraktion und neue Impulse angemahnt. Merkel, Seehofer und Dobrindt wurde zuletzt vorgeworfen, für den heftigen Unions-Streit vor der Sommerpause hauptverantwortlich zu sein, der fast die Fraktionsgemeinschaft beendet hätte. Zuletzt sorgte die Personalie um den bisherigen Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen für Unruhe in der Fraktion.

So reagiert die Presse

In den Kommentarspalten deutscher Medien sorgte Kauders Sturz für große Aufregung. Nachdem Kanzlerin und Innenminister noch am Dienstag vor den Bundestagsabgeordneten ihrer Partei erfolglos dafür geworben hatten, Volker Kauder wieder zu wählen, wird vor allem Merkel nun das Aus attestiert.

Die Zeit

"Brinkhaus' Wahl ist nicht das größtmögliche Debakel für die Kanzlerin. Sie hat damit die Möglichkeit, ihr eigenes politisches Ende wenigstens noch zu moderieren. Die Konditionen ihres Abgangs kann sie ohnehin nicht mehr vollends bestimmen – dafür ist es längst zu spät."

Süddeutsche Zeitung

Brinkhaus' Sieg könnte eine schwer kalkulierbare Dynamik in Gang setzen. Merkel wird mit ihm nicht einfach weiter regieren können, als sei nichts geschehen, auch wenn sie vermutlich nun die Eigenständigkeit der Fraktion betonen wird. Aber diese Entscheidung war viel zu sehr auch eine Entscheidung gegen sie. Merkel wird nicht zurücktreten. Aber sie muss überlegen, ob sie der Fraktion oder dem Bundestag insgesamt die Vertrauensfrage stellt.“

Der Spiegel

Kauders Wiederwahl hätte Merkel nach dem Tohuwabohu der letzten Wochen wieder etwas stabilisiert. Sein Sturz nun bewirkt das Gegenteil, und jeder in der Unionsfraktion wusste das bei Stimmabgabe. In diesen Tagen wird Merkels Abschied von der Macht eingeläutet.“

Bild Zeitung

Angela Merkels Werben für ihren Fraktionschef hat nicht verfangen. Sie hatte nicht die Macht, ihren Mann zu schützen. Diesen Moment wird bei CDU und CSU keiner mehr vergessen. So sehr der Kanzlerin das Gespür für die Sehnsucht ihrer eigenen Truppe nach Veränderung fehlte, so sehr ist es ihre Pflicht, dieses Gespür für das Land zurückzugewinnen. Jetzt.“

Tagesspiegel

„Dass Merkel die Abwahl ihres Kandidaten an der Spitze der Fraktion zum Anlass nimmt, aus dem Amt zu scheiden: Das entspräche ihrem Charakter nicht. Sie wird zu Ende bringen wollen, zumindest in Teilen, was ihr wichtig ist. Aber das Verhältnis der Kanzlerin zur CDU wird sich ändern. Über die Trennung von Amt und Parteivorsitz wird seit Monaten hinter vorgehaltener Hand diskutiert. Und was heißt das für uns, die großkoalitionär Regierten? (…) Auch wenn Merkel es noch so sehr bedauert: Die Koalition wird sich weiter mit sich selbst beschäftigen.“

Frankfurter Rundschau

Merkel weiß jetzt endgültig, dass sie eine Kanzlerin auf Abruf ist. Und vielleicht ist es schon zu spät, um darauf zu reagieren – nicht nur für sie. Vielleicht zeigt sich auch bald, was für ein großer Fehler es von SPD, Grünen und Linken war, dem Merkelismus keine mehrheitsfähige Alternative entgegenzusetzen. Wenn es schlecht läuft, geht mit der Ära Merkel auch die Chance auf diese Alternative verloren.“