Politik/Ausland

Deprimiert, untätig, voller Angst

Wären es " normale" Zeiten in Paris, hätte Präsident François Hollande nun nicht Gedenktafeln an den Schauplätzen der Anschläge auf die Satire-Zeitung Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt eingeweiht. Wichtige Geste der Erinnerung an die insgesamt 18 Opfer, aber auch Geste der Hilflosigkeit. Plaketten-Einweihen gehört nicht zu den Hauptaufgaben des französischen Staatsoberhaupts, sondern "führen", wenn es sein muss, in den Krieg...

Machtlos muss sich Hollande an diesem Jahrestag ins Gedächtnis rufen, seine Sicherheitskräfte konnten nicht einmal ein zweites Attentat verhindern. Zehn Monate nach dem ersten. Es war zehn Mal blutiger. Mehr als 130 Menschen kamen um an dem Pariser "schwarzen Freitag", dem vergangenen 13. November, als Attentäter an fünf Orten gleichzeitig zuschlugen, darunter im Konzertsaal Bataclan.

Als Hollande danach dem Islamischen Staat den Krieg erklärte, merkte die Welt erst, seine Staatskassen sind leer: Er musste die EU um Hilfe bitten. Frankreichs einziger Flugzeugträger "Charles de Gaulle" kreuzt seither um den Nahen Osten herum, ohne Strategie, beinahe kraftlos, wie der Präsident.

Jahr der Katastrophen

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Für Hollande und Frankreich war das vergangene Jahr ein "annus horribilis", ein schreckliches Jahr. Zusätzlich ein Jahr der polizeilichen Katastrophen. Untersuchungsbehörden meldeten dem Präsidenten keine wesentlichen Fortschritte über die Aufklärung des Jänner- Massakers: Nur die Namen der drei Attentäter, die Brüder Kouachi und Ademy Coulibaly, sind bekannt.

Doch wie die drei radikalisiert wurden? Bis heute ist das unklar, denn beriefen sich die Brüder Kouachi auf den "Islamischen Staat" (IS), behauptete Coulibaly hingegen, dem Terrornetz El Kaida, genauer seinem Ableger im Jemen, zuzugehören. Nach den Anschlägen hatten die Behörden auf Coulibalys Computer eMails eines Hintermannes entdeckt, der mehrere Befehle geschickt hatte. Nicht einmal dieser möglicher Drahtzieher wurde bisher gefasst, wobei vermutet wird, es sei ein im Jemen radikalisierter Franzose, inzwischen Mitglied des IS in Syrien, schreibt die Zeitung Le Monde.

Angesichts der Niederlagen muss sich Frankreichs Polizei von Kritikern vorwerfen lassen, sie versage. Die Witwe des in der Redaktion von Charlie Hebdo ermordeten Chefredakteurs George Wolinski veröffentlicht am Jahrestag ein Buch der Anklage an die Sicherheitskräfte. Sie wirft ihnen vor, die bedrohten Mitarbeiter des Satire- Blatts nicht genug beschützt zu haben. Andere verdächtigen den französischen Geheimdienst, weil die Waffen der Terroristen angeblich von einem ehemaligen Polizeispitzel geliefert worden waren. Nichts aber ist wichtiger für das Sicherheitsdenken einer getroffenen Bevölkerung als Gewissheit.

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Die Gewissheit gab es nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen vor einen Jahr noch: Damals protestierte eine Million Menschen furchtlos gegen " Terror". Der Slogan "Ich bin Charlie" ("Je suis Charlie") wurde zum stimmigen Werbeslogan.

In der Pariser Metro, in den Bistros trägt ihn heute niemand mehr am Mantelkragen. Charlie war spätestens vergessen, als die November-Terror-Schüsse durch Paris peitschten. Der Terror hat vielleicht noch nicht gewonnen, aber er is seinem möglichen Sieg näher gekommen.

Debatten gescheut

Abgesehen von der Kritik, die nun die geplanten Gedenkfeiern am Jahrestag überschatten, wagt Frankreich nicht einmal mehr die üblichen heißen Debatten zu führen, etwa über das Thema, was los ist mit der dritten Generation der Migranten, zu denen die Attentäter größtenteils gehörten.

Dort, wo sie herkommen, in den unruhigen Vorstädten, den Banlieues, brachen 2005 wochenlange Jugend-Proteste aus, aber keiner redet heute mehr darüber, weil Hollande und andere Politiker Angst haben, das wäre Wasser auf die Mühlen des rechtsradikalen Front National. Dazu kommt: Genauso wenig wie man Geld hat für Raketen gegen die syrische IS-Hochburg Rakka, hat Frankreich Geld für sozialen Wohnbau und Jugendprogramme.

Sondernummer

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Das sind eben keine normalen Zeiten, außer bei Charlie Hebdo, wo mit einer provokativen Sondernummer an den Jahrestag erinnert wird: Auf der Titelseite von einer Million Exemplaren wird ein blutverschmierter Gott, Mischung aus drei Weltreligionen, mit einer Kalaschnikow als "immer noch freier Mörder" dargestellt und eine Hasstirade gegen alles Religiöse abgefeuert. Das ist Frankreich, wie es gerne sein würde, aber heute nicht ist: kämpferisch, anti-religiös und wütend auf alle, die es nicht sind.