Ägypten: Nervosität vor Konfrontation
Mit dem Ausmaß der Proteste im In- und Ausland hatte der ägyptische Präsident Mohammed Mursi wohl nicht gerechnet. Seit er sich am Donnerstag im Alleingang per Verfassungsdekret über das Gesetz gestellt hatte, gingen Tausende seiner Anhänger und Gegner Tag für Tag auf die Straße, in Kairo genau so wie in Provinzstädten. In der Nacht zum Montag starb ein 15-jähriger Islamist bei einem Angriff auf ein Büro der Muslimbrüder in der Stadt Damanhur. Seit voriger Woche wurden Hunderte Menschen verletzt.
Die Säbel haben auch gestern gerasselt. Zunächst riefen die Liberalen und Linken des Landes zu Protesten gegen Mursi auf. Danach kündigten die Islamisten Solidaritätskundgebungen für ihren Präsidenten an, die sie am Abend aber doch wieder absagten. Man wolle „Blutvergießen verhindern“, hieß es.
Die Ankündigung der Großdemos hatte bei vielen Ägyptern Angst geschürt. „Der übergroße Teil der Bevölkerung hat keine Lust auf Straßenkämpfe. Sie sehnen sich nach Ruhe und Ordnung. Auch die Wirtschaftstreibenden – das zeigt der Kursabsturz an der Kairoer Börse von vom Sonntag und die Turbulenzen am Montag“, sagte Stephan Roll im Gespräch mit dem KURIER. Bis zum Weißen Haus in Washington hatten etliche Stimmen zur Ruhe aufgerufen. „Mursi bemüht sich um eine Entspannung der Lage. Er sucht nach einer gesichtswahrenden Lösung“, war der Experte von der Stiftung für Wissenschaft und Politik gestern überzeugt. Ägyptens Führung stehe angesichts der wirtschaftlichen Misere „mit dem Rücken zur Wand“.
Rolls Einschätzung nach „hat Mursi nicht die Absicht, sich dauerhaft als Diktator zu installieren.“ Der Präsident traf sich am Montag mit Vertretern des Obersten Richterrats, um einen Kompromiss auszuloten. Am späten Abend meldeten die New York Times und ägyptische Medien, der Präsident wolle seine Einschränkungen reduzieren. Demnach sollen die meisten seiner Aktionen weiterhin unter der Kontrolle der Richter stehen. Die verfassungsgebende Versammlung soll aber nicht von der Justiz aufgelöst werden können.