900.000 syrische Flüchtlinge an Grenze zur Türkei gestrandet
Jeden Tag geht der 30-jährige Mohammed al-Ali zur Mauer an der Grenze zur Türkei und schaut, ob er irgendwie auf die andere Seite gelangen kann. Bis jetzt hatte er damit nie Erfolg. "Wenn du auf der syrischen Seite bist und versuchst, auf die andere Seite zu kommen, schießen sie über deinen Kopf. Wenn du es aber schaffst, auf die türkische Seite zu gelangen, schießen sie direkt auf dich." Erst vorgestern sei jemand getötet worden, berichtet der Syrer.
Zeltlager
Al-Ali ist einer von 900.000 Flüchtlingen, die in der Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei gestrandet sind. Da die türkische Grenze auf der einen Seite immer besser gesichert wird und die Kriegsgebiete Syriens auf der anderen Seite immer näher rücken, stellen sich viele Flüchtlinge darauf ein, noch sehr lange in ärmlichen Zeltlagern bleiben zu müssen.
Fawas Atmeh und Mohammed Mussa sind zwei der Flüchtlinge in Idlib, die bereits resigniert haben. Schon zu Beginn der Kämpfe vor 18 Monaten flohen sie Richtung Türkei und sitzen nun dort im Flüchtlingslager fest. Seitdem beobachten sie, wie es um sie herum immer voller wird, die Zahl der Reihen blau-weißer Zelte habe sich inzwischen verdoppelt. Das Lager ist in keinem guten Zustand: Unrat liegt in einem Graben, der sich zwischen den Zelten entlangzieht. Männer sitzen gelangweilt auf Plastiksesseln, Arbeit gibt es nicht. Ein paar Buben spielen Fußball zwischen dem Müll.
"Wir dürfen nicht hinein"
"Wir sind an der Schwelle zur Türkei, aber wir dürfen nicht hinein", sagt der 33-jährige Atmeh. Aber einen Weg zurück gibt es auch nicht. Schon 15 Kilometer weiter im Hinterland ist Kriegsgebiet. In diese Richtung zu gehen, wäre lebensgefährlich. Außerdem macht die politische Situation eine Rückkehr für viele Flüchtlinge unmöglich, die mit den Rebellen sympathisiert haben. Das Gebiet südlich von Aleppo, aus dem Atmeh und Mussa stammen, ist jetzt in der Hand der Regierung. "Ich werde gesucht und für meine Familie gilt das Gleiche. Die Hälfte von uns wird des Terrorismus beschuldigt", sagt Atmeh.
Seit Russland Präsident Bashar al-Assad mit Kampfflugzeugen unterstützt, haben sich die Frontlinien des Krieges verschoben. Im Dezember eroberten Assads Truppen Aleppo zurück. Viele Rebellen und ihre Familien sahen sich gezwungen, nach Idlib zu fliehen. Dazu kommen noch Syrer aus der Provinz selbst, die sich vor Kämpfen zwischen islamistischen Extremisten und moderateren Rebellen in Sicherheit bringen wollen. Insgesamt hat der Krieg elf Millionen Menschen vertrieben.
Weil sie keinen Ausweg sehen, haben Atmeh und elf Familienmitglieder, darunter seine Frau und drei Kinder, angefangen, sich im Lager häuslich einzurichten. So gut es eben geht. So haben sie in dem einzigen Zelt, in dem sie alle zusammen wohnen, Teppiche als Unterteilungen aufgehängt und Decken auf dem Boden ausgebreitet.
Unregelmäßigen Lebensmittellieferungen
Der 25-jährige Mussa und seine Familie haben fast ein Jahr neben Atmehs Familie gewohnt. Mittlerweile ist Mussa mit Ehefrau und seinem sechs Monate alten Baby in ein höher gelegenes Zelt gezogen, um dem Schlamm und der Feuchtigkeit seines vorherigen Lagerplatzes zu entgehen. Die beiden Männer sagen, dass sie nur durch die unregelmäßigen Lebensmittellieferungen internationaler Nichtregierungsorganisationen und die Hilfsbereitschaft von anderen Flüchtlingen oder Einheimischen überleben können. Arbeit gebe es auch keine für Atmeh, einen ehemaligen Beamten und Mussa, der noch Student war, als der Krieg ausbrach. Noch nicht mal einfachste Hilfstätigkeiten seien in der Nähe zu erledigen.
Das Leben im Lager ist eintönig, es gebe nicht mehr zu tun, als zu überleben, erzählt Mussa. Trotzdem sei die Angst vor dem Krieg und dass er sie wieder einholen könnte, immer da. "Wenn die verschiedenen Gruppen gegeneinander kämpfen, können sie manchmal gefährlich nahe kommen". Die Männer haben Angst um ihre Kinder und Frauen. "Wenn ein Querschläger eines der Zelte trifft, durchschlägt es gleich zehn von ihnen. Wir sind in einer sehr verletzlichen Lage, sollte die Gewalt näher rücken."
Traum der Rückkehr immer unwahrscheinlicher
Um dieser verzweifelten Situation zu entkommen, versuchen immer mehr, irgendwie doch über die Grenze zu kommen. Dafür zahlen sie oft aber einen hohen Preis. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet immer wieder von Flüchtlingen, die durch türkische Soldaten an der Grenze getötet oder verletzt wurden. Außerdem versucht die Türkei ihre Grenze durch Zäune, Minen und Gräben zu sichern. Dadurch sollen nach Aussagen der Türkei vor allen Dingen Kämpfer des "Islamischen Staats" und kurdische Milizen gestoppt werden. Allerdings werden so auch die Flüchtlinge aufgehalten. Seit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei im letzten Jahr steht die Regierung in Ankara unter zusätzlichem Druck, einerseits die Grenze zu kontrollieren und sich andererseits um die fast drei Millionen Syrer, die schon in der Türkei sind, zu kümmern.
Atmeh und Mussa möchten ihr Leben nicht an der Grenze riskieren. Sie warten. Die Hoffnung, irgendwann wieder in ihre Häuser im Süden von Aleppo zurückkehren zu können, ist noch da. Aber jeder neu aufbrechende militärische Konflikt lässt diesen Traum unwahrscheinlicher werden.