Wie der elektrische Kia EV6 durch Kälte und Schnee kommt
Von Horst Bauer
Auffälliger geht’s derzeit kaum im Straßenbild. Wo immer man mit dem Kia EV6 auftaucht, wenden sich ihm die Blicke zu – und in den allermeisten Fällen sind sie höchst anerkennend.
Das zudem unbeeinflusst davon, dass es sich um ein Elektroauto handelt. Da der Test-Kia nicht mit einer grünen Nummerntafel ausgestattet war, erkannten ihn nur Experten als reinrassiges Elektroauto. Eine Auto-Blindverkostung sozusagen, deren Ergebnis ganz im Sinne seiner Schöpfer ist. Laut Kias Design-Guru Luk Donckerwolke wollte man mit dem EV6 ja ein E-Auto kreieren, das Auto-Enthusiasten gefällt.
Wie der Test unter strammen Winter-Bedingungen gezeigt hat, kann der Kia EV6 aber nicht nur durch sein Aussehen, sondern auch durch Qualitäten in der praktischen Anwendung punkten. Er soll ja schließlich keine rollende Skulptur sein, sondern eine geräumige Limousine mit potentem Elektroantrieb – und im aktuellen Fall mit Allrad und einer starken Batterie (77,4 kWh).
Ein kleiner Makel in der sonst sehr guten Praktikabilität sind allerdings die versenkten Türgriffe, die in der mechanischen Variante erst durch drücken auf das vordere Ende der Griffschiene ausklappen. Bedienungsfreundlichkeit geht anders
Im geräumigen Cockpit zeigt sich, dass hier Entwickler am Werk waren, denen möglichst wenig Ablenkung des Piloten vom Verkehrsgeschehen ein Anliegen war. Kleines Detail zur Illustrierung: Die – vor allem im Winter – drei wichtigsten Knöpfe in einem E-Auto (je ein Schalter für die Regulierung der Sitz- und der Knopf für die Lenkradheizung) liegen auf der Mittelkonsole so griffgünstig, dass die Hand praktisch von selbst drauffällt.
Auch für die übrigen Befehlsausgaben an die elektronischen Helfer hat man mit dem breiten, nicht zu hohen Touchscreen und einer darunterliegenden, umschaltbaren Schalterleiste eine gute Lösung gefunden. Für Lautstärke- bzw. Temperatur-Regelung gibt’s sogar analoge Drehregel. Und der Schalter für die Fahrprogramme (Eco, Normal, Sport) liegt griffgünstig direkt am Lenkrad.
Lediglich bei der Gestaltung des Haupt-Displays vor dem Lenkrad – da, wo früher einmal Tacho und Drehzahlmesser zu finden waren – sind den Designern etwas die futuristischen Pferde durchgegangen. Die optische Darstellung der gefahrenen Geschwindigkeit und es jeweiligen Rekuperations-Geschehens mit zwei sich verschiebenden Balken orientiert sich an der Ästhetik von Computerspielen. Was in einem realen Auto-Cockpit eigentlich nichts verloren hat. Vor allem, weil es nicht zu besserer Übersichtlichkeit beiträgt.
Abhilfe schafft hier jedoch die gute, gestochen scharfe und weit in die vorausliegende Fahrbahn projizierte Darstellung des Head-up-Displays. Hier erfährt der Pilot alle relevanten Informationen direkt beim Blick auf das Verkehrsgeschehen, ohne sich von der animierten Grafik ablenken lassen zu müssen.
Langstrecke bei Kälte und Schnee
Womit wir beim Fahren wären. Und das bei für E-Autos ungünstigen Bedingungen. Sprich: Langstrecke, tiefe Temperaturen und Schneefahrbahnen.
Was auf den 1.000 Test-Kilometern mit dem EV6 GT-Line Pro AWD dabei aufgefallen ist:
Reichweite Von den 472 bis 506 km Normreichweite blieben in der winterlichen Praxis rund 380 km übrig. Was bei normalem Autobahntempo und eingeschalteter Heizung allerdings nicht für die Strecke von Wien nach Villach reicht. Dank der Kia-Charge-Karte lässt sich jedoch auch via Ionity-Schnellladestationen (etwa in der Autobahnstation Kaiserwald bei Graz) in rund 20 Minuten genug Reichweite nachlegen.
Allrad Die Leistung des bei Bedarf zusätzlich die Vorderachse antreibenden E-Motors zeigte sich selbst den Anforderungen verschneiter Steigungen mit vereister Fahrbahn gewachsen. Ergebnis: Hier ist kein Schönwetter-Allradler für’s Prospekt im Einsatz. Der EV6 AWD kann vielmehr mit dem alpenländischen Winter bestens zurechtkommen.
Verbrauch Wie die Norm-Reichweite ist der Normverbrauch von 17,2 - 18,4 kWh / km in der Praxis nicht haltbar. Aber auch der Testschnitt (25,6 kWh/100 km) kann sich angesichts der beschriebenen Bedingungen (zum Teil zweistellige Minusgrade, kein Verzicht auf Heizung) sehen lassen.
Ladeklappe Diese ist optisch so gut ins Heck integriert, dass sie im geschlossenen Zustand nicht auffällt. Sie öffnet auf Knopfdruck und schließt praktischerweise automatisch beim Anfahren ohne Zutun des Fahrers.
Fazit: Der Kia EV6 hat es nicht zufällig auf die Shortlist der Wahl zum Auto des Jahres geschafft. Im Markt wird er die Rolle des Elektrikers für Auto-Fans besetzen, die sich an ausladenden Elektro-SUV sattgesehen haben.
Antrieb: Allradantrieb mit 2 Permanent Magnet Synchronmotoren, Leistung 73,9 bzw. 165,4 kW, Li-Ionen-Batterie 77,4 kWh, Ladeleistungsaufnahme: Wechselstrom max. 11 kW, Gleichstrom max. 240 kW.
Fahrleistungen: Beschleunigung von 0 auif 100 km/h in 5,2 Sekunden, Spitzengeschwindigkeit 185 km/h
Abmessungen: Länge x Breite x Höhe 4.680 x 1.880 x 1.550 mm, Radstand 2.900 mm. Kofferraum: 480 l im Heck, 20 l unter Fronthaube. Leergewicht 2.015 - 2.105 kg, höchstzulässiges Gesamtgewicht 2.530 kg, Anhängelast ungebremst / gebremst 750 / 1.600 kg.
Verbrauch: Normverbrauch nach WLTP 17,2 - 18,4 kWh /100 km, Testverbrauch 25,6 kWh / 100 km. Max. Reichweite 472 - 506 km, max. Reichweite im Test 380 km.
Ladedauer: Von 10 auf 100 %: Haushaltsteckdose 230 V ca. 33 Stunden, Wallbox 11 kW ca. 7 Stunden 20 Min.
Von 10 auf 80 %: Gleichstrom-Schnellader 50 kW ca. 73 Min., Gleichstrom-Schnellader 350 kW ca.18 Min.
Kosten: Kia EV6 GT-line Pro AWD ab 61.490 €