Ferrari 812 GTS: Exklusives Vergnügen im vorweihnachtlichen Nebel
Von Horst Bauer
Es gibt bessere Gelegenheiten, um dem stärksten Serien-Cabrio der Welt auf den Zahn fühlen zu dürfen. Die Weihnachtswoche in Wien und Umgebung war definitiv nicht die ideale Raum-/Zeit-Kombination dafür.
Aber besondere Zeiten (in denen aus bekannten Gründen Kurz-Reisen zu adäquateren Plätzen in der Sonne abgesagt sind) erfordern besondere Maßnahmen. Wenn die Tester nicht zum Auto kommen können, dann muss eben das Auto auf die Reise gehen, hat man in Maranello beschlossen und einen Ferrari 812 GTS nach Wien geschickt. Da stand er nun im grauen Nebel – und leider nicht im erwarteten Ferrari-Rot, womit er wenigstens in eine Weihnachtsgeschichte gepasst hätte.
Womit alle Anspielungen auf den roten Schlitten des wohlgenährten Herren mit dem weißen Rauschebart in der Metaphern-Kammer bleiben mussten und auch keine Analogien zwischen dessen Rentieren und den 800 Pferden gebastelt werden konnten, die den grauen Schlitten aus Maranello hurtig von dannen ziehen, wenn der Kutscher den entsprechenden Befehl gibt.
Erster 12-Zylinder-Spider seit 50 Jahren
So blieb also nichts übrig, als sich dem 812 GTS als das zu nähern, was er ist: Nicht nur das stärkste Serien-Cabrio, das es derzeit zu kaufen gibt, sondern auch der erste neue Ferrari Spider mit Zwölfzylindermotor seit 50 Jahren – seit dem 365 GTS 4 vulgo Daytona Spider – der in Serie gebaut wird.
Zur Beruhigung des jetzt aufkeimenden Widerspruchs der Spezialisten: Seit dem Daytona hat es zwar ein paar andere offene Ferrari mit V12-Frontmotor gegeben (zuletzt den F60 America), aber eben nur als streng limitierte Sonderserien.
Nachdem man die erste Ehrfurcht vor dem exorbitanten Kaufpreis (ab 416.692 €) und den noch exorbitanteren Leistungsdaten (800 PS, 718 Nm Drehmoment) abgelegt hat, lenkt sich der 812 GTS im normalen Alltagsverkehr so frei von Allüren, wie irgendein massentauglicher Fiat. Die Zeiten, in denen hochgezüchtete Ferrari-Motoren bei jeder Kreuzung mühsam bei Laune gehalten werden wollten sind ja schon länger vorbei. Aber die Problemlosigkeit und Entspanntheit, mit der dieser Supersportwagen durch den vorweihnachtlichen Wiener Stadtverkehr gleitet, ist beeindruckend.
Nebeneffekt des grauen Farbtons: Man fällt mit dem 812 GTS nicht schon von Weitem auf, was auch seinem moderaten Betriebsgeräusch im Zuckel-Modus zu verdanken ist. Die häufigste Frage, die anderen Autofahrern und Passanten angesichts des Werksautos mit italienischer Nummer ins Gesicht geschrieben schien, lautete eher: „Wie ist der Italiener eigentlich im Lockdown über die Grenze gekommen?“
Bei freiem Auslauf
Hat man die Mühen der – verstopften – Ebene einmal hinter sich gelassen und kann den 800 Pferden freien Auslauf gewähren, zeigt sich der 812 GTS als der Supersportwagen, den man in ihm schon aufgrund der Optik vermutet. Und das nicht nur durch den schieren Beschleunigungsschub, den ein beherzter Tritt aufs Gaspedal auslöst. Auch wenn man es nicht darauf anlegt, unter Verwendung des speziellen „Launch“-Fahrprogrammes Tempo 100 aus dem Stand in unter 3 Sekunden zu erreichen: Mehr als genug Schub steht in allen Fahrsituationen auf Abruf bereit. Dafür sorgt der 6,5-Liter Zwölfzylinder, dessen enorme Drehmomentwelle keine Turbo-Zacken kennt.
Diese Souveränität herrscht auch in die andere Richtung. Die Keramikbremsen des 812 GTS lassen sich nicht nur schon in kaltem Zustand gut dosieren. Bei Gefahr in Verzug greifen sie mit derartiger Macht ins Geschehen ein, dass sich die enorme Verzögerung für den Körper des Piloten genauso herausfordernd anfühlt, wie zuvor der volle Beschleunigungsschub.
Enorme Kurvengeschwindigkeiten
Und dank des ausgeklügelten Fahrwerks lassen sich bei trockener Straße Kurvengeschwindigkeiten erzielen, die sich die meisten Piloten nie zutrauen würden. Wer beim Kurveneingang die Grenzen der Physik nicht sprengt, kann dank der aus dem Formel-1-Fundus schöpfenden elektronischen Assistenten beim Hinausbeschleunigen nichts mehr falsch machen. Ergebnis ist ein gefühlter Ritt auf der Kanonenkugel und die Erkenntnis, dass elektronische Fahrassistenz nicht immer als Spaßbremse wirken muss.
Die Besonderheit des 812 GTS gegenüber dem 812 Superfast ist aber das Klappdach, das dem Fahrerlebnis die Frischluft-Dimension hinzufügt. Angesichts der gegebenen klimatischen Umstände des Tests ist dazu vorerst nur zu sagen, dass die Klappmechanik souverän funktioniert. Und das auch bei geringem Tempo (maximal 45 km/h) im Fahren. Was bei Dächern dieser Bauart sonst nicht unbedingt die Regel ist.
Aber für den Gegenwert von gut 47 Dacia Sandero darf man sich das schon erwarten.
Antrieb: V12-Benziner, Hubraum 6.496 cm3, Leistung 800 PS bei 8.500 U/min, max. Drehmoment 718 Nm bei 7.000 U/min, 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe, vier Scheibenbremsen, Hochleistungs-ABS/EBD, Heckantrieb.
Abmessungen: Länge x Breite x Höhe 4.693 x 1.971 x 1.278 mm, Radstand 2.720 mm, Trockengewicht 1.600 kg. Gewichtsverteilung vorne / hinten: 47 % / 53 %. Kofferraumvolumen (unabhängig vom auf - oder zugeklappten Dach) 250 l, Tankvolumen 92 l.
Fahrleistungen: Beschleunigung 0 - 100 km/h: < 3,0 Sek., 0 - 200 km/h in 8,3 Sek., Höchstgeschwindigkeit 340 km/h.
Verbrauch: Normverbrauch 16,4 l/100 km, 373 g/km CO2
Kosten: Listenpreis ab 416.692 €, motorbezogene Versicherungssteuer bei Zulassung ab Oktober 2020: 6747,84 €. Bei Zulassung ab dem 1.1.2021: 6782,4 €