Tannistest 2022: Auftakt zur Ermittlung des Autos des Jahres
Von Horst Bauer
Die Helden heißen Jan-Erik und Tommy. Mit welch stoischer Gelassenheit und Präzision die beiden schwedischen Juroren der Wahl zum „Auto des Jahres“ einen Elchtest nach dem anderen abspulen, ringt allen Zuschauern auf dem kleinen Flugfeld von Sindal ganz im Norden von Dänemark Bewunderung ab.
Durch die Hände der beiden gehen beim diesjährigen Tannistest – seit 44 Jahren traditioneller Auftakt der Suche nach dem „Auto des Jahres“ – 28 verschiedene Modelle. Vom VW-Bus bis zum elektrischen Dacia Spring, vom Audi GT bis zum chinesischen Newcomer MG Marvel. Mit jedem Auto werden rund fünf solcher Ausweichtests hintereinander gefahren. Bei jedem Durchgang wird das Tempo gesteigert.
Und das alles natürlich mit der zulässigen Höchstzahl an Personen an Bord. Diese werden unter „Freiwilligen“ aus dem Kreis der Kollegen der internationalen Jury und den Vertretern der Industrie rekrutiert, welche die für den Test zur Verfügung gestellten Modelle betreuen. Und für nicht wenige unter ihnen ist es eher eine Schreckensvorstellung, als „lebender Dummy“ schlingernd durch die Pylonengasse chauffiert zu werden. Vor allem die Mittelsitze auf den Rückbänken gelten dabei als Härtefall. Aber nach ein paar Umläufen wird die Besatzung – zum Teil kreidebleich – ohnehin gewechselt. Nur Jan-Erik und Tommy bleiben dran und wechseln nur das Auto.
Das summiert sich für sie zu einem langen Vormittag zwischen den Pylonen von Schräglage zu Schräglage. Bei Geschwindigkeiten zwischen 50 und rund 80 km/h – je nachdem, ab welchem Tempo dem jeweiligen Kandidaten die Straße ausgeht und die Pylonen fliegen.
Elchtest mit Überraschungen
Die Erkenntnisse aus den Tempomessungen und den Kommentaren der beiden Fahrer, denen als schwedische Fachjournalisten der Elchtest quasi im Blut liegt, fließen mit ein in die Entscheidung der Kollegen. Die Mitglieder der internationalen „Auto-des-Jahres“-Jury, müssen nach dem Treffen in Tannis aus allen für die Wahl qualifizierten Modellen zunächst sieben Kandidaten auswählen, die in die Endrunde gehen (siehe unten).
So stellen die Tester etwa zum elektrischen Dacia Spring fest: „Bei Tempo 50 starkes Untersteuern, Reifen mit wenig Grip.“ Das Problem hält sich, bis das Ausweichmanöver bei Tempo 70 nicht mehr zu schaffen ist. Mit 66 km/h ist der Kurs zwar zu bewältigen, aber wohl nur, weil ein erfahrener Pilot am Steuer sitzt. Kommentar: „Zuerst Untersteuern, dann Rutschphase, aber ESP greift nicht ein.“
Von einem ganz anderen Kaliber ist da die ESP-Abstimmung im Toyota Yaris Cross. Kommentar bei Tempo 70: „Sehr starker ESP-Eingriff. Das Auto wird beinahe angehalten.“ Nachsatz: „So etwas hatten wir noch nie.“
Weniger anstrengend für die Tester, aber mit einem unerwarteten Ergebnis läuft die heuer erstmals durchgeführte Überprüfung der Rückwärts-Notbremsassistenten ab. Hierfür hat man sich einen neuen Mitarbeiter in die Jury geholt: Einen Dummy in der Größe eines Kindes auf einem Tretroller. Auf den fährt man mit maximal 5 km/h im Retourgang zu und wartet, bis das Auto das Hindernis erkennt und selbsttätig zum Stehen bringt.
Einer bremst nicht
Von den 28 heuer in Tannis getesteten Modellen sind 11 mit solchen Notbremssystemen ausgestattet. Diese funktionieren durchgehend zufriedenstellend, bis auf einen Sonderfall. Der Nissan Qashqai mit manuellem Getriebe stößt den Dummy trotz des Systems an Bord nieder. Wie sich herausstellt, ist dieses auf das Automatikgetriebe ausgelegt und schaltet sich aus, sobald der Fahrer beim Rangieren auskuppelt. Tut er das nicht, schiebt er wegen des starken Standgases mit zumindest 10 km/h zurück – das Notbremssystem funktioniert aber nur bis 5 km/h.
Abgesehen von den beiden speziellen Tests auf dem Flugfeld in Sindal hatten die heuer angereisten 23 Juroren die ganze vergangene Woche über die Möglichkeit, alle 28 Modelle (zum Teil in verschiedenen Motorisierungs- und Karosserie-Varianten) auf den wenig befahrenen Landstraßen in der Umgebung des Stützpunktes beim Hotel Tannishus im direkten Vergleich ausgiebig auszuprobieren. Inklusive der im Norden Dänemarks erlaubten Fahrt auf dem endlosen Strand der Nordsee-Küste.
Auffallend an der Zusammensetzung des Fuhrparks war heuer der hohe Anteil an Elektroautos. Waren es vor zwei Jahren (im Vorjahr konnte der Tannistest wegen der Pandemie nicht stattfinden) nur fünf rein elektrische Modelle, so scharten sich heuer schon 13 Elektriker um die Steckdosen.
Und auch ein anderer Trend in der internationalen Autoindustrie war bei deren Familienaufstellung am Nordeestrand ablesbar. Noch nie waren so viele neue Modelle beim Tannistest dabei, die in China hergestellt wurden. Von den beiden MG über den Lynk & Co 01 und den DS 9 bis zum Tesla Model Y spannte sich hier der Bogen.
Nach dem Tannistest erfolgt am 15. November die Bekanntgabe der offiziellen Longlist. Auf der stehen alle Autos, welche die Kriterien (neues Modell und nicht nur Derivat eines bestehenden, in mindestens fünf Märkten in Europa bereits verfügbar etc.) dafür erfüllt haben.
In einem ersten Wahldurchgang bestimmen dann die 61 Juroren aus 23 europäischen Ländern (darunter 6 Frauen) jene 7 Modelle, die in die finale Bewertung kommen. Diese Shortlist wird am 29. November veröffentlicht.
Im zweiten Durchgang werden die 7 verbliebenen Kandidaten von der Fachjury (Österreich hat 3 Plätze) noch einmal ausführlich geprüft und am 8. Februar auf der Teststrecke von Mortefontaine bei Paris im direkten Vergleich gefahren. Die darauffolgende Bewertung und Punktevergabe jedes einzelnen Jurors ist nach der Bekanntgabe des Endergebnisses auf der Homepage der Car-of-the-Year Organisation www.caroftheyear.org nachzulesen
Die Bekanntgabe, wer den Titel „Car of the Year 2022“ bekommt, erfolgt am 16. Februar 2022 um 15:00 Uhr in Genf und wird via Livestream auf motor.at übertragen.