Meinung

Mit 70 einen neuen Anlauf nehmen

Öko-soziale Marktwirtschaft und christliche Soziallehre haben nicht überlebt.

Mag. Herbert Vytiska
über die ÖVP und die SPÖ anlässlich ihres 70. Geburtstages

Die Stimmung im Lande anno 2015 ist nicht nur ein Jammern auf hohem Niveau, das ist oftmals eine Mischung aus Defätismus und Zukunftspessimismus. Es ist chic geworden, alles zu bekritteln, der EU jede nur mögliche Schuld in die Schuhe zu schieben. Und die Politiker, die sind ja überhaupt zu nichts zu gebrauchen. Als Mitte April 1945 die Österreichische Volkspartei gegründet und die alte Sozialistische Partei zu neuem Leben erweckt wurde, war das Land am Boden zerstört. Und trotzdem gab es beherzte Frauen und Männer, die sich nicht unterkriegen ließen. Sie packten an und dachten an morgen. Mit dem Erfolg, dass jede der beiden Parteien vor 70 Jahren zwischen 45 und 50 Prozent der Stimmen erhielt.

Austauschbar

SPÖ und ÖVP gibt es noch immer. Aber ihre Anhängerschar hat sich halbiert. Aus den beiden Groß- sind Mittelparteien geworden. Das hat viele Gründe. Wer früher einer Partei beitrat, tat dies nicht nur aus Sympathie zum Parteiprogramm und den politischen Protagonisten, sondern auch aus Eigennutz. Man erhoffte sich dadurch leichter zu einer Wohnung, zu einem Arbeitsplatz, zu beruflichem Aufstieg zu gelangen. Faktoren, die heute kaum noch eine Rolle spielen. Früher einmal standen die Parteien für Ideologien. Und sie lieferten sich auch entsprechende Duelle. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Realismus, wie sich der Kommunismus zuletzt verschämt nannte, gingen den sozialdemokratischen Parteien ihre Überväter wie Karl Marx & Co verloren. Geblieben ist das Attribut links, dessen Inhalte aber beliebig austauschbar wurden. Ähnlich erging es vielen Volksparteien. Sie hatten sich christlich demokratischen Werten verpflichtet, zuletzt aber immer weniger daran gehalten. Öko-soziale Marktwirtschaft und christliche Soziallehre haben nicht überlebt. Sie wären in unserer heutigen ausufernden Welt als Ordnungsmodell erst recht wieder gefragt. Es wäre angebracht, nicht nur geschichtliche Rückblicke zu halten sondern auch eine Art Gewissenserforschung zu betreiben. Es bedarf wieder einer großen Zielsetzung. 1945 war diese die Wiedergeburt Österreichs, 1955 die wiedererlangte Freiheit, 1995 der Beitritt zum großen Europa. In der Zeit des Kalten Kriegs hatten wir eine wichtige Brückenfunktion, politisch, sozial, kulturell. Und 2015? Wir sind gerade mit unseren Alltagsproblemen beschäftigt. Dabei wissen wir sehr wohl, was alles zu tun wäre, um so manche verloren gegangene Position im internationalen Ranking zurückzugewinnen. Was passiert stattdessen? Man hat Angst, Wähler vor den Kopf zu stoßen, anstatt den Mut, neue Wähler anzusprechen. Genau mit dieser Mentalität muss Schluss gemacht werden. Eine klare, aufrechte Position, ehrlicher Optimismus, kraftvolles Handeln und entschlossenes Durchsetzen, könnten wieder etwas in Bewegung setzen. Wie damals vor 70 Jahren.