Meinung/Kommentare/Innenpolitik

Vision und Realität – Europa braucht beides

Visionen sind entgegen dem alten Diktum des Helmut Schmidt kein Fall für den Arzt

Andreas Schwarz
über Kritik an der Juncker-Rede

Jean-Claude Juncker ist ein freundlicher und netter Mensch. Dementsprechend sind die Reaktionen auf die Rede, die der Kommissionspräsident zur Lage der EU gehalten hat, auch höflich – aber überwiegend ablehnend. "Gut, dass er Druck und Tempo macht", sagt etwa Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble, aber für eine Erweiterung der Euro-Zone müssten auch die Voraussetzungen bei den neuen Mitgliedern erfüllt sein. Und in selten Einmütigkeit nennen Österreichs Kanzler und sein Herausforderer, Christian Kern und Sebastian Kurz, das Juncker-Konzept "undurchdacht" bzw. zur Zeit nicht umsetzbar.

Dies Ablehnung hat nicht (nur) mit dem Wahlkampf zu tun, der in beiden Ländern in die Endphase geht.

Juncker hat mit seiner Rede Optimismus verbreiten wollen. Die EU habe wieder "Wind in den Segeln". Den hat sie nach Brexit und diversen internen, nennen wir es: Verwerfungen dringend nötig. Er hat mit der Vision, den Schengen-Raum zu erweitern, die Euro-Zone auszudehnen und die Kluft zu den Ost-Staaten zu verkleinern, über den Tellerrand gedacht. Und stimmt: Visionen sind entgegen dem alten Diktum des Helmut Schmidt kein Fall für den Arzt – ohne die Visionen der Herren Schuman und Monnet, eines Giscard d’Estaing und genau dieses Helmut Schmidt gäbe es EU und Euro nicht.

Aber die Bürger erwarten Antworten auf konkrete Fragen, keine Träume, die der Realität nicht standhalten: Wie mit dem sich ständig nur verlagernden Flüchtlingsstrom und den offenen Grenzen umgehen? Wie umgehen mit EU-Staaten, die nur nehmen (Geld), aber keine Solidarität leben? Wie Disziplin zur Einhaltung der Werte, die die Union mit ausmachen, durchsetzen?

Die Politiker aber, die Juncker jetzt höflich an diese Realität erinnern, haben nicht zu erwarten. Sie haben zu liefern – denn sie sind die EU.