Heraus zum 1. Mai – mit neuen Ideen
Die Arbeitswelt hat sich fundamental verändert, das Verständnis der Politik dafür aber nicht immer
über den Tag der Arbeit
Rituale gehören zum Leben. Sie geben Orientierung und Sicherheit, mögen sie für Außenstehende auch manchmal befremdlich wirken. So marschieren SPÖ-Funktionäre am 1. Mai wieder an ihrer Führung am Wiener Rathaus vorbei, auch wenn sie heute kaum noch als Arbeiterbewegung wahrgenommen werden. Das Ritual lebt, aber es sucht eine neue Idee.
Mit Kundgebungen am 1. Mai demonstrierten die Arbeiter im 19. Jahrhundert im kapitalistischen Amerika für den 8-Stunden-Tag. Heute akzeptieren viele den 12- Stunden-Tag, wenn das Entgelt stimmt, andere beuten sich – freiwillig oder auch nicht – als Selbstständige aus, und junge, oft gut Ausgebildete haben keine schwieligen Hände vom Arbeiten, sondern vom Schreiben ihrer Bewerbungen für ein Gratis-Praktikum. Die Arbeitswelt ist auch in einem Land des Noch-Wohlstands so vielfältig geworden, dass weder Gesetzgeber noch Gewerkschaften eine sinnvolle gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen haben. Sie suchen nicht einmal danach, weil sie sich noch immer als Vertreter derjenigen fühlen, die in der Ordnung und den Zuwachsraten des Wirtschaftswachstums groß geworden sind.
Das merkt man in der aktuellen Steuerdebatte ganz besonders. Die Steuern waren in Österreich immer zu hoch. Auch konservative Politiker erfreuen sich an der Kunst des Verteilens von fremdem Geld. Nur waren früher die Lohnzuwächse deutlich höher und wurden nicht sofort weggesteuert. Und in Zeiten der Hochkonjunktur war die Schaffung von Wohnungseigentum für breitere Schichten möglich. Bei den aktuellen Einkommen und Wohnungspreisen wird der Erwerb einer Wohnung fast nur mehr nach einer Erbschaft möglich.
Neue Antworten gesucht
Der französische Ökonom Thomas Piketty hat sich im Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" angesehen, unter welchen gesellschaftlichen Umständen Wohlstand aufgebaut werden kann und wie er verteilt wird. Seine Antwort: Unser Wirtschaftswachstum ist und bleibt gering, und da kann man mit Zinsen auf Kapital mehr Geld verdienen als mit Arbeit. Dadurch wird der Unterschied zwischen denen, die Kapital haben, und denen, die sich mit Arbeit etwas schaffen wollen, immer größer.
Für Superreiche hat Piketty ein Rezept: Bei Vermögen von hundert Millionen Euro und mehr müssten die Zuwächse massiv besteuert werden. Wie das in einer Welt der Steueroasen funktionieren soll, ist eine schwierige Frage. Aber was kann ein Staat wie Österreich tun? Die Politik neigt zu schlichten Parolen. "Leistung" rufen die einen, "Millionärssteuer" die anderen. Diese Sprüche bringen uns nicht weiter. Eine mutige Regierung und innovative Sozialpartner würden mal analysieren, wo im Aufbau des Staates Geld versickert und wie gerecht Sozialleistungen vergeben werden. Und natürlich muss das Steuersystem neu aufgesetzt werden. Ohne Tabus und Denkverbote. Jenseits der Polit-Rituale, die wir alle nicht mehr aushalten.