Meinung/Kommentare/Innenpolitik

2015 – den Auftrag der Geschichte spüren

Wir haben wieder ein Gedenkjahr vor uns. Es sollte uns optimistisch stimmen, was seit 1945 erreicht wurde

Dr. Helmut Brandstätter
über 2015

In weiten Gebieten Europas starren ungeheuere Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen und suchen den düsteren Horizont angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen kommenden Gefahr oder eines neuen Schreckens ab. Unter den Siegern herrscht babylonisches Stimmengewirr, unter den Besiegten aber das trotzige Schweigen der Verzweiflung." So beschrieb der britische Kriegspremier Winston Churchill im September 1946 in Zürich den Zustand Europas. (Hier gibt es Chruchills Rede im Original und in deutscher Übersetzung.)

2015 jährt sich zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs, wir erinnern uns an den Staatsvertrag, der uns vor 60 Jahren die Freiheit wiedergab, und den Beitritt Österreichs zur EU vor 20 Jahren. Die Mehrheit der Österreicher glaubt, siehe die heutige OGM-Umfrage, an den Frieden in Europa. Das alleine ist schon ein Erfolg der europäischen Einigung. Als vor 25 Jahren die Mauer fiel und Deutschland schneller, als das irgendjemand vermutet hätte, wieder ein Staat wurde, gab es skeptische Stimmen. Wird dieses große und starke Deutschland wieder, wie so oft in der Geschichte, die Gleichgewichte in Europa so stören, dass neue Rivalität ausbrechen muss? Nein, die EU ist nicht nur ein Friedensprojekt, ihre Konstruktion verhindert auch, dass Machtspiele wieder den ganzen Kontinent gefährden könnten.

Das ist die Stärke der EU. Auf eine Schwäche macht der frühere US-Außenminister Henry Kissinger in seinem Buch "Weltordnung" aufmerksam: "Europa wendet sich just in einem Augenblick nach innen, da die Weltordnung, die es in bedeutendem Maß mitgeschaffen hat, von zerstörerischen Entwicklungen bedroht wird, die alle Regionen, die ihre Mitgestaltung versäumen, am Ende in den Abgrund reißen könnte."

Die Erinnerung als Auftrag

In der Tat, wir haben genug interne Probleme. Der Euro ist zwar ungefährdet. Alle, die ihn mit mehr oder weniger ökonomischem Verstand kaputt reden wollten, müssen das zur Kenntnis nehmen. Und die internen Diskussionen, auf die Kissinger anspielt, sind notwendig, um zu einer koordinierten Wirtschafts- und Steuerpolitik zu kommen. Dafür soll die Kommission endlich aufhören, detailverliebt in das Leben der Bürger eingreifen zu wollen. Der neue Präsident Jean-Claude Juncker hat da einen sinnvollen Vorsatz gefasst. Im Buch "So kann Europa gelingen" verlangt er, den Gedanken der Subsidiarität wieder zu beleben. Was die untere Einheit lösen kann, muss die höhere gar nicht beschäftigen.

Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kann aber nur auf europäischer Ebene funktionieren. Gegenüber Russland hat sich die EU bewährt, da waren gemeinsame Werte wichtiger als schnelle Geschäfte. Aber die EU muss auch in den Konflikten des Nahen Ostens gemeinsam auftreten, sie muss die Betreuung der Flüchtlinge organisieren und wissen, wie sie mit dem erstarkten China und der Verschiebung von politischer und ökonomischer Macht Richtung Asien umgeht.

Für junge Leute, die auch am heutigen KURIER mitgearbeitet haben, sind der Fall der Mauer und der EU-Beitritt Geschichte. Sie kennen kein geteiltes Europa. Der Erinnerung an das Europa, das Churchill beschrieb, ist ein Auftrag an alle Bürger dieses Kontinents.