Meinung/Kommentare/Aussenpolitik

Riskantes Spiel mit kostbarem Gut

Nicht fliehende Menschen sind das größte Problem der EU – sondern Nationalstaaten, die sich einer gemeinsamen Lösung verweigern

Stefan Schocher
über die EU

Sie spielt mit ihrem heikelsten Gut dieser Tage, die EU. Wenn sich Flüchtlinge heute auf den Weg machen und Europa ihr Ziel nennen – von Bangladesch über Pakistan oder Afghanistan, aus dem Iran, dem Irak oder Syrien, Eritrea oder Somalia –, dann schwingt da eines mit: der Traum vom Leben in einem Rechtsstaat. Immer wieder hört man dieses markante Beispiel: "In den USA muss man sich fürchten, von der Polizei in den Rücken geschossen zu werden, nicht so in Europa." Es geht nicht nur um geografische Nähe und Lebensstandard, wenn Menschen nach Europa wollen.

Außenpolitisch ist die EU nahezu schmerzhaft träge, militärisch ist sie eine Null-Macht. Wirtschaftlich ist sie einigermaßen relevant. Ihr wahres Gewicht aber – und vor allem in dieser Krise – ist ihr weltweites Image als Bund von Staaten, in denen Staatsorgane kein Feind der Bürger sind, in denen Menschen auf mehr oder weniger direktem Weg zu ihrem Recht kommen – bei aller Fehlerhaftigkeit und Verbesserungswürdigkeit.

Dieses Umstands sollte sich Brüssel bewusst sein, wenn Deals mit Staaten wie der Türkei geschlossen werden (Stichwort Pressefreiheit, Umgang mit der Opposition, Umgang mit Flüchtlingen u. s. w.), die dann ihrerseits fliehende Menschen politisch benutzen. Und das sollte die EU auch wissen, wenn Flüchtlingen de facto die Möglichkeit verweigert wird, in EU-Staaten Asyl zu beantragen (bis sie das irgendwann von der Türkei aus können). Das ist ein Rechtsbruch – faktisch und moralisch. Nicht fliehende Menschen sind das größte Problem der EU in dieser Krise – sondern Nationalstaaten, die sich einer gemeinsamen Lösung verweigern und damit die gesamte Union der Erpressung von Drittstaaten aussetzen.