Ein Gescholtener wird gebraucht
Von Andreas Schwarz
Erdogan hat die Rolle als gefragter Gesprächs- und Verhandlungspartner wohl sehr genossen. Das war er in den letzten Jahren definitiv nicht.
über den Hilferuf an die Türkei
Es ist die Stunde der Parias. Wladimir Putin hat sein Militär nach Syrien losgeschickt, um die Dschihadisten des "Islamischen Staates" zu stoppen und nebenher, oder hauptsächlich, das Restregime Staatschef Assads zu stabilisieren. Und auch wenn Letzteres dem Westen nicht gefällt: Mangels eigener Friedensleistung in Syrien hofft man zunehmend, dass es der russische Präsident irgendwie richtet. Auf dass die Flüchtlingswelle irgendwann ein Ende hat.
Recep Tayyip Erdogan wiederum hielt gestern in Brüssel Hof, nicht umgekehrt: Der EU-Kommissionspräsident, der Rats-, der Parlamentspräsident, sie alle traten an, um den türkischen Staatschef dazu zu bewegen, besagte Flüchtlingswelle schon in der Türkei zu stoppen. Erdogan hat die Rolle als gefragter Gesprächs- und Verhandlungspartner wohl sehr genossen.
Das war er in den letzten Jahren definitiv nicht. Die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara liegen auf Eis, auch wegen der Menschenrechtslage in der Türkei. Der Umgang mit Kritikern (Stichwort: Gezi-Park-Proteste), die Prozesse gegen teils minderjährige Erdogan-Spötter haben in Europa Empörung ausgelöst. Für den Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren wurde die Türkei in vielen europäischen Hauptstädten laut gescholten. Und die Kündigung des Friedensprozesses mit den Kurden hat besorgtes Unverständnis ausgelöst. Das alles zu Recht.
Jetzt aber braucht man den neuzeitlichen Sultan. Und muss auch noch vergessen machen, dass Europa die Last, die die Türkei mit mehr als zwei Millionen Flüchtlingen jetzt schon trägt, bisher herzlich egal war.
Erdogan hat es nicht vergessen. Und wird sich die Hilfe für Europa teurer abkaufen lassen, als mit ein paar Milliarden Euro für neue Flüchtlingslager. Das ist der Preis, wenn man auf Parias setzen muss.