Meinung/Kolumnen/Mitte

Zeichen der Baumkronen

Um das wundertätige Agnesbründl ranken sich zahlreiche Volkssagen.


über Volkssagen

Mit frisch gekauften Paradeisern, Würsten und Kerzen schritt ich jüngst über die Landstraßer Haupt nach Haus, als ich bemerkte, dass sich mein Blick wie von selbst gen Himmel hob. Das geschieht bei mir eigentlich öfter, aber nur selten in den tiefen Gruben des Mittwinters. Dass es nun passierte, schien mir ein Zeichen, dass die allertiefsten Gruben ja vielleicht hinter mir lagen: Und tatsächlich. Der Himmel war noch hell, obwohl es fünf vorbei war. Er war königsblau mit einem Stich ins Türkise. Die Wolkenriffe, die in ihn hineinragten, hatten goldene Ränder, also musste irgendwo da droben noch Sonne sein.

Ich stellte meine Sachen neben mich und ließ mich auf einer Bank nieder, um eine zu rauchen, den Blick unausgesetzt gen Himmel gewandt. In den letzten drei Tagen hatte sich die Luft von minus sieben auf plus neun Grad erwärmt. Und obwohl dies natürlich erst der falsche Frühling war, herzte ich innerlich den Gedanken, wonach auf einen so prononcierten falschen Frühling wie jetzt nur noch ganz selten ein ganz harter Spätwinter zurückkam. Ich brachte mein Zeug heim und trat mit meiner ganzen guten Laune vor die Familie.

Dort erzählte ich, was ich auf einem geheimnisvollen Stück Papier gelesen hatte, einem Papier, gelöst aus der Speisekarte des Agnesbründl-Wirten im Wienerwald. Es berichtet von zahlreichen Volkssagen, die sich um das wundertätige Agnesbründl ranken. Das Agnesbründl, schon im Wiener Barock ein prosperierender Wallfahrtsort, wurde von den josefinischen Behörden geschlossen, weil es so große Menschenaufläufe anzog. Von allen Sagen gefiel mir folgende am besten: Zeitgenossen, die sich mit dem Wasser des Agnesbründels die Augenlider bestrichen, behaupteten anschließend, in den umliegenden Baumkronen die Zahlen der nächsten Lottoziehung aufblinken zu sehen.

Ich stand an diesem lauen Abend noch länger auf dem Balkon und schaute auf den kleinen Alleebaum hinunter, der uns im Zwölferjahr auf der Landstraßer Haupt verdorrt ist. Warum, dachte ich, lassen ihn die so umsichtigen Stadtgärtner da stehen? Ich nahm mir vor, seine Krone zu beobachten, denn vielleicht würde er mir etwas offenbaren.

ernst.molden@kurier.at