Meinung/Kolumnen/Mitte

wien MITTE: Unsere Gegend

Unlängst fahren die Meinen und ich mit dem Leichenwagen zum Eislaufverein, nehmen die Beatrix als Schleichweg, und kommen bei unserer alten Gasse vorbei. Die Liebste und ich stellen fest, dass uns diese Gasse immer berühren wird, aber auch, dass das jetzt nicht mehr "unsere Gegend" ist. Unsere Gegend ist jetzt da oben, in Erdberg. Das hier ist ein Teil unserer größeren, neuen Gegend. Aber wir bewahren uns ein mildes Interesse. Ich erzähle der Liebsten, dass ich jetzt beim neuen Kerschbaum war, also im neuen Geschäftslokal meines alten Lieblingsmusikgeschäftes, das schick und geschmackvoll runter auf den Heumarkt gezogen ist. Alles neu, neu, neu, singt Peter Fox. Wobei: Das Neueste überhaupt wollte mir noch nie und will mir jetzt schon gar nicht gefallen.

Anderntags sehe ich es, dieses Neueste, wie ich zu Fuß die Landstraßer Haupt runtergehe. An der Stelle, wo man auf dem Rochushügerl immer so einen super Blick über die Stadt bis hinauf zu den Wienerwaldbergen hatte, verstellt diesen nun ein Hochhaus, aber ein Hochhaus, das sich selbst nicht mehr hochkriegt, bucklert und halberigiert am Fuß der Landstraße lagert. Sie ahnen, was ich meine: Der neue Bahnhof Wien Mitte. Die dazugehörige Website stellt die Fertigstellung vor heuer in Aussicht und ertönt etwas hohl: "In unmittelbarer Nähe zum historischen Stadtzentrum entsteht ein multifunktionaler Gebäudekomplex, der in seiner Attraktivität einzigartig sein wird – WIEN MITTE."

Hab ich’s mir doch gedacht. Hier ist die Bescheidenheit zuhause. "Neben der Hauptnutzung als Bürogebäude wird WIEN MITTE die Nachfrage nach Infrastruktureinrichtungen mit einem Shopping Center von rund 30.300 m² Verkaufsfläche hervorragend abdecken."

Hervorragend, die richtige Antwort auf die Krise, auf die brennenden Fragen der Zeit! Aber nein, ich ärgere mich nicht. Ich beharre darauf, dass Wien Mitte jetzt nicht mehr in Wien Mitte ist. Ich richte meinen eigenen Blick in eine andere Richtung. Nach Simmering, wo ich immer mehr Lieblingsecken entdecke. Ins Burgenland, das sich mir gerade öffnet wie ein vom Wind aufgeschlagenes Buch.

2012 will ich mich generell weniger ärgern. Der Blick nach Osten, er hilft.

ernst.molden(at)kurier.at