wien mitte: Blöder wunderbarer Sommer
Ich habe so eine Art Seelen-Tinnitus im Ohr. Das Endlos-Echo eines Klanges, den ich fast den ganzen August lang gehört habe, was heißt eines Klanges, eines Gesanges! Der Gesang der Singzikaden von Kreta, konkret der Mannazikaden (Cicada orni), die gegen sieben in der Früh die verträumt oszillierenden Grillen der griechischen Nacht mit ihrem ersten heiseren Schrei arbeitslos machen und dann den Tag durchschreien, wie eine Legion kleiner Tom Waits. "Wie kann etwas derart Mörderlautes so beruhigend sein?", frage ich die Liebste, als wir unter einer von Mannazikaden bevölkerten Tamariske ruhen. Jetzt ist das große Blau aus dem Blick verlorengegangen, und das kleine Grau nistet sich ein, sprich: Wien im nahenden Herbst. Der Erstgeborene nimmt den 71er ins Gymnasium, und in meinem Ohr werden die Echos der Singzikaden leiser. Abnehmender Seelen-Tinnitus. Ich erfahre Schübe der Wehmut. Die letzten Tage im Stadionbad. Bis auf eine trainierende Sportschwimmergang bin ich allein im großen Becken. Silberpappellaub treibt auf dem Wasser. Die Sonne kommt flach über die Dächer der Kabinenzeilen, auf den Betonstiegen glüht sie sanft wie die Hand einer sich verabschiedenden Mama. Ich entwickle Zorn auf die Schübe der Wehmut. Ich will nicht wehmütig sein am Schwarzenbergplatz, ich will mir nicht leidtun am Luegerplatz, ich will nicht durchs Sentiment waten am nachmittagsgüldenen Rochusmarkt. Ich mag nicht so ein "Luschi" sein, wie meine jüngeren Kinder sagen, nur weil sich meine Lieblings-Jahreszeit schleicht, dieser blöde wunderbare Sommer. Ich höre jetzt die neue Gillian-Welch-Platte. Wer Gillian Welch nicht kennt: Das ist, wie ich finde, die beste Folksängerin überhaupt, seit acht Jahren ist "The Harrow & the Harvest" ihre erste Platte. Die herbe Stimme von Frau Welch zerdrückt die letzten Zikadenschreie in mir: It's beefsteak when I'm working, whiskey when I'm dry, sweet heaven when I die, singt Gillian. Genau. Pfeif auf die Wehmut. Ich will kahle Bäume, ich will den Geruch von klammer Erde, ich will einen eisigen Wind, der durch die Rustenschacher fährt. Ich will Herbst, rote Abendwolken, einen pünktlichen 71er für meinen Buben. Ich werde Pullover tragen. Ich glaube wirklich, ich bin bereit. ernst.molden(at)kurier.at