Meinung/Kolumnen/Mitte

Mittsommerabend

So saßen wir im Ersten und führten Schmäh.

Ernst Molden
über den ersten Abend, an dem man draußen sitzen konnte.

Mein Bruder ist wieder da. Die Universität von New Orleans hat für die Sommerferien zugesperrt, und er darf ein paar Monate nach Wien. So trafen die Liebste und ich ihn und seine Liebste im Café Korb. Wir aßen und tranken, und mein Bruder wollte uns nicht glauben, dass dies der erste Abend war, an dem man im Ersten draußen sitzen konnte, ohne einen Anorak zu tragen. Mein Bruder erzählte von seinen Studenten, von Konzerten die er besucht hatte, und von Bayous und Alligatoren. Es war Samstag, und die Tuchlauben spannte sich vor uns auf wie eine urbansoziologische Zirkusmanege. Müde vom Jetlag strichen die Augen meines Bruders über den ersten Bezirk, während wir vom Hochwasser, vom kalten Lenz und der ersoffenen Festwocheneröffnung erzählten. Wien! entfuhr es ihm ungläubig.

Menschen kamen vorbei, Menschen aus unserer Vergangenheit, ein Ex-Chef, eine entfernte Verwandte. Alle hatten ein Tuchlaubeneis in Händen. Schließlich kam der Dichter Rabinovici, ein alter Bekannter. Er hatte kein Eis, und setzte sich auf ein Soda-Zitron zu uns. Der Dichter Rabinovici ist ein lieber und unfader Mensch. Er habe ein Rede zu schreiben, sagte er, verschiebe dies aber nun, um mit uns auf der Tuchlauben zu sitzen. Zeit verstrich. Der Dichter ging, und unsere Penzinger Freunde kamen vorbei, mürb von einer Caligula-Aufführung im Burgtheater. So saßen wir im Ersten und führten Schmäh.

In mir stieg ein Gedanke auf, wonach die Klimaänderung nicht in die erwartete, sondern in die entgegengesetzte Richtung stattfinden könnte, und es zur Regel würde, dass man nur an einem einzigen Abend im Ersten ohne Anorak sitzen kann, ein Heiliger Abend des Mittsommers. Irgendwann brachen wir auf. Wir kamen durch die Sonnenfelsgasse, vor 20 Jahren ein Jagdrevier von mir. Die Gassen waren dicht bevölkert mit schwer betrunkenen jungen Menschen. Und ich erzählte von den Zeiten, als man samstagabends auch der einzige rastlose junge Mensch im Ersten sein konnte, weil so wenig los war. Mit Glück traf man den Dichter Rabinovici.

Die Liebste, die nicht so gern trinkt, startete den Leichenwagen und wir surrten kanalabwärts. Sweet Home Erdberg.