Der letzte Tag meines Sommers
So hat man ihn halt ein paar Mal verlängert, den Sommer, und dann ist er doch aus. Man hält das Ende der güldenen Schnur in der Hand. Man weiß, es ist der letzte Tag. Der letzte Tag meines Sommers war der achtzehnte September. Ich hatte einen Weg, kanalabwärts, mein Ziel war Albern. Ich musste an ein paar Liedern für die Nachbarn vom Rabenhof arbeiten, Lieder, in denen der Tod durch Albern geht, also stellte ich die Schnauze des Patagonia-Radls Richtung Ostsüdost und fuhr los.
Die östliche Kanalstrecke ist eine schöne, eine bewusstseinserweiternde Radstrecke. Erst plagt man sich noch neben dem Zubringer zur Ostautobahn, dann wird es ganz ruhig. Olfaktorische Wellen des Argen schwappen über den Radler, sobald er das Kompostwerk und die Pfaffenauer Müllverbrennung passiert. Dann kommt dieses spukige, versperrte, über und über mit Graffiti bedeckte Wirtshaus, auf dem "Friedhof der Bücher" steht, dann die Freudenauer Brücke, und dann ist man schon oben am Damm und hält auf den Dschungel beim blauen Wasser zu.
Unter meinen vielen Wiener Herzensdschungeln, Lusthaus, Kritzendorf, Kuchelau, Panozzalacke, finde ich den am Blauen Wasser gerade fast am malerischsten. Wegen dieser Lianen und Winden und Ranken, die hier alles wie ein Fischernetz des Vergessens bedecken, die Riesenpappeln, die Holzstöße, die Böschungen. In der Mitte liegt wie bei Georges Bataille ein vereinzeltes Auge: das blaue Wasser. Ich fand mein Kap der Guten Hoffnung, eine steinige Halbinsel, auf die die Sonne fiel. Ich holte die Zigeunergitarre aus dem Rucksack und arbeitete solange, bis mir unerträglich heiß war. Dann ging ich ins blaue Wasser, das saukalt war, aber das letzte Stück der Sommerschnur ist eben, wie es ist. Als ich in der Sonne trocknete, schwamm eine Familie aus Höckerschwänen vorüber, dann landeten zwei Kormorane.
Als ich schon gehen wollte, blitzte noch etwas Metallisch-Blaues über dem Wasser auf, und ich jubelte innerlich, denn es war ein Eisvogel. Noch einen Augenblick hielt ich die güldene Sommerschnur in der Hand, dann ließ ich sie aus. Sie glitt ins blaue Wasser. Als ich durch den Dschungel Richtung Hafen radelte, begegneten mir Angler. Meinen Rucksack verkennend, fragten sie mich, ob ich etwas gefangen hätte.
ernst. molden(at)kurier.at