Meinung/Kolumnen/Mitte

Der Blick zurück

Während meines momentanen William-Faulkner-Lesemarathons ist mir Folgendes aufgefallen: Während sich der unfassbar souveräne Dichter des amerikani­schen Südens in seinen früheren Romanen auf die Dreißigerjahre, also auf die damalige Gegenwart, konzentrierte, strich sein Blick in der Folge immer weiter zurück, bis er bei seinem letzten Roman tief in der Vergangenheit, nämlich bei der vorletzten Jahrhundertwende angekommen war. Ich frage mich, ob das etwas Wesensimmanentes und Allgemein-Menschliches ist. Mein eigener Blick geht tendenziell auch zurück. Ich ertappe mich dabei, wie ich Stadt-Details, die es in meiner Kindheit schon gegeben hat, mit anderer Innigkeit betrachte als andere, neu dazugekommene. Und jetzt ist da auch noch die Sache mit diesem Buch. Das Buch hat mein Plattenboss Gröbchen vorbeigebracht. Plattenboss Gröbchen kommt hier in Erdberg quasi rituell vorbei, um mit der Liebsten und mir übers Cover der jeweils neuen Platte zu streiten. Beim letzten Besuch hat Gröbchen vorab-entwaffnender Weise ein Buch als Geschenk mitgebracht. Jetzt hab ich’s vom Regal runtergenommen und bin dem Buch voll in die Falle gegangen. Das von einem Herrn Römer herausgegebene Paperback trägt den Titel "Landstraße – Neue Bilder aus Alter Zeit" und versammelt historische Fotografien aus meiner Gegend. Jetzt schaue ich täglich in dieses Buch hinein. Weil die Fotos so verblüffend sind. Selber Ort und auch nur Menschen. Aber trotzdem vollkom­men weg, weit und unwiederbringlich weg. Selbst wenn ich jetzt durch unser Viertel gehe, schaue ich in dieses Buch. Ich umrunde etwa den Rabenhof und halluziniere schon die Wettstreiter des Rabenhof-Radkriteriums vom Juni 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, die ich aus meinem Bilderbuch kenne. In der Hainburger Straße imaginiere ich die ebenerdigen waschelnassen Arbeiter-Häuschen aus der Zwischenkriegszeit, die es dort zu Dutzend gab. Und in dem todkalten und vorwinterlichen Donaukanal stelle ich geistig die Schwimmkäfige des Strombades Rotunden­brücken zurück, mit ihren Duschen und Kabinen und ihren schicken 1920er-Jahre-Damen. Dann komme ich von solchen Gängen nach Hause und sage zur Liebsten: Argerweise ist 2012!

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