Meinung/Kolumnen/Mitte

Bergtee und das Orakel

Und auch H. unsere Lieblingsnachbarin, kriegt immer ein Sackerl.

Ernst Molden
über Bergtee und seine Nachbarin.

Eh klar: Jetzt, wo der Lenz über unseren gebeugten Häuptern detoniert, werden alle krank. Eh logisch, weil im Warmen gedeihen Virus und Bakterium, mit der Widerstandskraft isses aus, und schon liegen alle auf dem Divan. Ohne prahlen zu wollen und drei Mal fest aufs Holz hauend, sage ich: Diese meine Herzensfamilie hier ist bis dato recht gesund. Der Papa führt das auf unsere bis zur Stumpfsinnigkeit exekutierten Spätwinterspaziergänge zurück, und ein bissl auch auf den Bergtee. Der Bergtee wird von uns im Nylonsackerl aus Südkreta eingeführt, er besteht aus einer Art sprödem Reisig sowie einem getrockneten Kraut mit fetten, pelzigen Dolden. Der Bergtee, von uns den Winter hindurch geschlürft, hindert die Krankheit am Kommen und lindert, wenn sie doch kommt, alle Symptome inklusive der Gemütsverdüsterung. Mittlerweile bringen wir den Tee auch unseren Gumpendorfer Freunden mit, und auch H. unsere Lieblingsnachbarin, kriegt immer ein Sackerl. H., eine so liebenswerte wie offenherzige Dame, wohnt in unserem Hause oben am Juchee und arbeitet als Orakel, das heißt als professionelle Kartenlegerin. Dass H. hellsichtig ist, weiß ich seit unserer ersten Begegnung, damals, als wir einzogen im noch nagelneuen Leichenwagen. – Des is amoi a lustiges Auto! rief unsere zukünftige Nachbarin spontan aus, und ich fühlte mich total verstanden, nachdem meine besten Freunde in den Wochen davor alle so neutrale Aahhh-Laute ausgestoßen hatten, wenn sie den Leichenwagen sahen. In den seither vergangenen drei Jahren hat H. nicht nur Beistand, Süßigkeiten und höchst entscheidende Informationen bei unserer Tür hineinrollen lassen, sie hat mir auch mehrfach ihre Dienste als Orakel angeboten. H., sag ich dann immer, seima nicht bös, aber gerade weil ich überzeugt bin, dass du das kannst, will ich nix wissen davon. H. ist herrlicherweise immer völlig unbeleidigt, wenn ich das sage. Unlängst warteten die Drittgeborene und ich auf den Lift, der Richtung Erdgeschoß fuhr. Da ist die H. drin, sagte ich zur Drittgeborenen. Und H. stieg tatsächlich aus. Ich hab dein Kommen vorausgesagt, sagte ich ihr, ich kann das nämlich auch. I waaß, sagte H. Eh klar.