Meinung/Kolumnen/sex in der freizeit

Der lange Weg zum Ich

Wer sich als junger Mensch in diesem Stanz-Bild nicht wiederfinden kann, ist verstört.

Gabriele Kuhn
über die Suche nach sexueller Orientierung

Irgendwann kommt jeder junge Mensch an diesen Punkt, an dem „es“ erwacht. An dem klar wird, dass da was ist und dieses Etwas nicht sich selbst meint, sondern ein Du. Dieses Du ist aufregend spannend, seltsam kraftvoll – und magnetisch. Was dann folgt, ist der Stoff, aus dem Erinnerungen gemacht sind: an erste Blicke, erste Berührungen, heimliche Tagträume und sentimentale Tagebucheinträge. „Er hat mich angeschaut“, „Sie hat mich angelächelt“, „Wir haben uns an den Händen gehalten“, „Ich glaube, er mag mich auch“ sowie: „Heute haben wir geschmust!“

Wie viele bin ich?

Diese ersten erotischen Gefühle sind es, die Heranwachsende auf den langen Weg zu ihrem sexuellen Ich, das die sexuelle Orientierung inkludiert, schicken. Dieser Weg kann ein leichter sein, ist es aber nicht immer. Vor allem, wenn sich folgende drei „W“-Fragen zum Hindernis aufbauen: Wer bin ich? Wie viele bin ich? Warum ich? Meist ist das der Fall, wenn das Objekt der Anziehung im Widerspruch zu dem steht, was „üblich“ ist. Sie also eine Sie anziehend findet und er einen Er. Oder die Anziehung pendelt, man also morgens als junge Frau mit erotischen Gedanken an einen jungen Mann aufwacht und abends mit wirklich guten Gefühlen für ein anderes weibliches Wesen ins Bett geht. Sich also auch die Frage nach dem „Was bin ich?“ stellt: schwul? Lesbisch? Hetero? Bi? Zumal es nicht nur zwei bekannte Dimensionen dieses großen Themas gibt, sondern ein Ausprägungs-Kontinuum an Möglichkeiten und Anziehungskräften. Schön dargestellt wird das in dem sogenannten „Klein Sexual Orientation Grid“ – eine Skala zur Erfassung des sexuellen Verhaltens, die auf eindrucksvolle Weise sämtliche Graubereiche und Übergänge zeigt – von „ausschließlich heterosexuell“ über „gleichermaßen hetero/homosexuell“ bis hin zu „ausschließlich homosexuell“. Dazwischen existiert noch dies und das. Schön, denn genau das macht das Menschsein und Lusterleben aus.

Wie auch immer: Für alle Heranwachsenden ist das Bewusstwerden der sexuellen Orientierung eine Entwicklungsaufgabe. Für homo- oder bisexuell orientierte Jugendliche ist sie eine spezielle. Weil klar ist, dass das, was bei ihnen gerade so abgeht, gar nicht dem Bild des tradierten heterosexuellen Mutter-Vater-Kind-Normativs entspricht. Wo wir schon in den Volksschulbüchern lesen dürfen, dass Mama mit Mimi einkaufen geht und Papa mit dem Auto ins Büro fährt. Wer sich als junger Mensch in diesem Stanz-Bild nicht wiederfinden kann, ist irritiert, verstört und sehr oft ängstlich. Viele Studien zeigen nämlich, dass homo- oder bisexuell orientierte Jugendliche zu einem hohen Prozentsatz negative Reaktionen auf ihre sexuelle Orientierung erleben müssen – das reicht von Beschimpfungen und Lustigmachen über Kontaktabbruch bis hin zu brutaler, von Homophobie getriebener Gewalt. Und ja, wir leben im 21. Jahrhundert und nein, das alles ist nicht besser geworden, sondern tendiert in einer Gesellschaft, die Vielfalt mehr denn je als Bedrohung empfindet, zum Schlechteren. Desto mehr, desto stärker und desto leidenschaftlicher sollte daher dieser Weg von der ersten Konfusion (Was ist da?) über Zweifel (Darf ich so sein, wie ich bin?) zum identitätsstiftenden Glück (So bin ich, so will ich sein) begleitet werden. Von Eltern und Freunden, von Lehrern und all jenen, die mit jungen Menschen zu tun haben. Keine Toleranz für Intoleranz. Stattdessen Kraft und Motivation: Habt Mut, steht zu euch – vor allem aber: Holt euch alles an Unterstützung, weil es jeder (ja, jeder!) verdient, das zu werden, was er ist.

gabriele.kuhn@kurier.at