Sex: Alpenüberquerung
Von Gabriele Kuhn
Frauen müssen viel mehr über sich selbst wissen, um den Gipfel der Lust zu erreichen.
über den Orgasm Gap
Ein paar Sekunden, mehr nicht. Und trotzdem dreht sich so vieles um diesen speziellen Moment namens Orgasmus. Aber leider: Es ist und bleibt kompliziert. Vor allem für Frauen. Während bei ihm der Weg von der Erregung zur Entlastung ein lockerer Spaziergang ist, hadert sie mit der Alpenüberquerung an schwerem Gepäck. Oft schauen Frauen durch die Finger, während er bereits zufrieden am postkoitalen Tschick nuckelt oder schön schlummert. Orgasm Gap wird das neuerdings genannt – angelehnt an den Gender Pay Gap, wo Frauen weniger für ihre Leistung bekommen als die Herren. Fakt ist: Maximal 5,7 Minuten dauert es im Durchschnitt bis er ejakuliert. Also ratzfatz. Bei ihr braucht’s ein Vielfaches bis es passiert. Oder eben nix passiert. Weil Frauen fürs Kommen optimale Bedingungen benötigen – und Erregung alleine nicht reicht. Weil das weibliche Muster der Geilheit mehr dem EKG eines Patienten mit Herzrhythmusstörungen gleicht. Da ist was, da ist nix, da ist viel, da ist schon wieder nix. Himmel, Arsch und Zwirn.
Deshalb war bzw. ist die Geschichte des weiblichen Orgasmus eine der Verirrungen und Verwirrungen. Seit Jahrhunderten wird am Projekt „Höhepunkt“ herumgedoktert – dazu das anschauliche Beispiel der Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland und Dänemark sowie französische Psychoanalytikerin und Autorin. Alles drehte sich bei ihr um den legendären, ersehnten und angesagten vaginalen Orgasmus – obwohl sie viele Affären hatte, war da diesbezüglich nichts. Es folgten Jahre auf der Couch von Sigmund Freud, aber nein: nada. Bonapartes letzte Hoffnung galt einer Intim-Operation, wohl eine der ersten dieser Art: Sie ließ sich vom Wiener Chirurgen Josef von Halban die Klitoris näher an den Vagina-Eingang „montieren“. Erfolglos. Eine weitere OP half ebenfalls nicht, schließlich ruinierte ihr der Chirurg beim dritten Eingriff den Klitorisnerv. Höhepunkt, ade. Und zwar für immer.
Studien zur Orgasmusfähigkeit gibt es wie Sand am Meer – das Kommen oder eben Nicht-Kommen wurde zu fast allem in Relation gesetzt. Zur Menge der gegessenen Wurstsemmerln (Scherz) bis zum Alter beim ersten Vaginalverkehr (kein Scherz). Auch die politischen Ansichten einer Frau wurden bereits in diesen Kontext gegossen. Keine Sorge, Sie werden hier nicht lesen, dass Grünwählerinnen multipel kommen können, während Frauen mit konservativerer Haltung frigide sind. Weil es diese Relation nicht gibt. Interessant ist allerdings die Orgasmus-Zwillingsstudie: Eine in Australien durchgeführte Untersuchung mit 3080 Zwillingsschwestern zeigte, dass die Orgasmusfähigkeit bei eineiigen Zwillingsschwestern signifikant ähnlicher ist als bei zweieiigen. Der Höhepunkt als Gen-Merkmal? Vielleicht. Viel wichtiger scheint jedoch die Frage, ob das Nicht- oder Zu-spät-Kommen womöglich unabdingbares Schicksal ist. An dieser Stelle eine gute Nachricht: ist es nicht. Doch im Gegensatz zu den Männern müssen Frauen viel mehr über sich selbst wissen, um den Gipfel der Lust zu erreichen. Wer kommen möchte, sollte seine innere und äußere Lust-Landkarte kennen. Seinen Körper, dessen Rhythmen und die G-Punkte – für Geilheitspunkte. Und wenn das alles auch jener Typ erfährt, mit dem man das Vergnügen hat, ist’s kein Schaden.
gabriele.kuhn@kurier.at