174 Genitalien
Von Gabriele Kuhn
Viel Genital kann am Ende doch viel zu wenig sein.
über eine Dating-Show
Die prekär es sein kann, gewisse Dinge unbekleidet zu tun, schilderte Autor und TV-Koch Jamie Oliver unlängst in einem Interview mit dem Magazin „Focus“. Da wurde der „Naked-Chef“ gefragt, ob er jemals nackt gekocht hätte. Daraufhin er: „Einmal. Und das habe ich schmerzlich bereut. Ich kann es also nicht empfehlen.“ Auf die Frage nach dem Grund dafür, antwortete er: „Ich habe mir den Schwanz verbrannt.“ Als Oliver den Ofen aufmachte, kam ihm eine dichte, heiße Wolke Dampf entgegen. Autsch – „da steh ich, ein entlaubter Stamm“ (Friedrich von Schiller, „Wallensteins Tod“). Apropos Dampf und nackt: Viel heiße Luft wird derzeit um eine neue britische TV-Datingshow mit dem Namen „The Naked Attraction“ gemacht. Die geht so: Eine Frau und ein Mann auf der Suche nach potenziellen Partnern sehen ihre sechs möglichen Dating-Kandidaten erst einmal nur vom Hals abwärts. Alles, was oben ist, wird von einer Plexi-Box verdeckt – im Blick-Winkel: der Rest. Also Brust, Bauch, Beine, Po. Und, naturgemäß, der Genitalbereich. So, als ob Penis und Vagina nach Aufmerksamkeit und Zuwendung winseln könnten: Darf ich dein Herzblatt sein? Ein Shitstorm zur Oberflächlichkeit und Vordergründigkeit der Sendung folgte prompt – pure Fleischbeschau, monierten Empörte. Erste Bilanz der Blöße: 82 Bilder von männlichen Genitalien, 92 von weiblichen – macht 174. Oh! My! God! Die Tageszeitung „Guardian“ fragte gar, ob mit „Naked Attraction“ die Zivilisation am Ende angelangt sei. Die Frage, ob ein Mensch begehrenswert ist, könne man doch bitte nicht auf die Genitalien reduzieren. Kann man doch – zumindest nach dem TV-Sender Channel 4. Und dennoch liegen die Macher der Show falsch. Denn die Wahl nach dem passenden Partner ist kein linearer und simpler Prozess, sondern hochkomplex. So würde zumindest ich den Suchenden die Gelegenheit geben, das Gesehene vorsichtig zu beschnüffeln. Weil zahlreiche Studien zeigen, wie wichtig der „Duft des Fleisches“ ist. Begehren ist auch eine Sache des Geruchs. Partnerwahl „oben ohne“ – also ohne Blick aufs Gesicht – ist ebenfalls sinnlos. Das Gesicht spielt eine zentrale Rolle – weltweit. Angehörige verschiedener Kulturen finden dieselben Gesichtsmerkmale schön: ebenmäßige und symmetrische Züge etwa, als Signal für gesunde Gene und Fruchtbarkeit. Auch gerne gesehen: hohe Brauen, volle Lippen, rosige Wangen als Indikatoren für eine tadellose Östrogenlage. Männer punkten wiederum mit einer ausgeprägten Kieferregion, kräftigen Augenbrauen, großer Nase – als Symbol für Männlichkeit und Stärke. Und der Körper? Klar, der sagt auch einiges – aber eben im Rahmen des Gesamtkunstwerks. Die richtigen Formen – man nennt’s fachlich „Sanduhr-Form“ bei ihr, schmale Hüften bei ihm – sind wesentliche Signale für Fruchtbarkeit, Potenz, Stärke. Was den Reiz und das Alleinstellungsmerkmal eines Genitals betrifft, kommen bei mir sowieso die allergrößten Zweifel auf: Ein Penis macht noch keinen Beziehungssommer, für das weibliche Pendant gilt das Gleiche. Punktuelles Glück, für eine Stunde, zwei oder drei, ja – aber kein Bullet Point fürs Langzeitprojekt Beziehung. En passant zählt wohl auch, was eine/r zu sagen hat. Der schönste Mensch kann in der Sekunde seinen gesamten Beauty-Bonus verlieren, wenn da oben nur Schwachsinn rauskommt.