Meinung/Kolumnen/Kein Pardon im Salon

Gab es „vor“ Facebook & Twitter?

Wie? Gab es tatsächlich ein „vorvirtuelles“ Zeitalter?

Dieter Chmelar
über Chodorkowski's Facebook-Unwissenheit.

Nein: Zynismus ist nichts „Feines“ – niemals und grundsätzlich, kommt der Begriff doch vom griechischen kynismós, was so viel wie „Hundsgemeinheit“ bedeutet. Und obwohl es jedenfalls meiner Hündin an derlei charakterlichem Defizit zur Gänze gebricht, will ich sie nicht noch auf seltsame Ideen bringen. Aber: Die vielbeachtete Pressekonferenz des nach zehn Jahren freigelassenen Putin-Kritikers Chodorkowski verleitet zu liebevoller Boshaftigkeit. Der angeblich auf karge 200 Millionen heruntergekommene Ex-Multimilliardär sagte ja, alles sei „neu“ für ihn, „etwa Facebook und Twitter – als ich ins Gefängnis kam, gab es das noch gar nicht“. Wie? Gab es tatsächlich ein „vorvirtuelles“ Zeitalter? Wobei virtuell mit Vorsicht zu genießen ist, kommt es ja, irrtümlich, vom lateinischen virtus („Tugend, Tapferkeit, Tüchtigkeit“). Zynisch wäre, den Enthafteten zu beneiden, was ihm alles erspart blieb ... Katzenbilder, Selfies, Shitstorms, Hass-Foren, Chatrooms. Oder so essenzielle Informationen wie: 45 Mio. Menschen sind zu jeder beliebigen Minute betrunken (wenn auch nicht immer dieselben); der Mensch hat 1460 Träume pro Jahr und pro Sekunde finden 2778 Geschlechtsakte statt. All das danken wir „Wikiwisser“ sozialen Netzwerken. Aber auch Erkenntnisse wie: Der schwächste der fünf Sinne ist der Geschmackssinn. Dies, gepaart mit obiger Hundsgemeinheit, führt in der virtuellen Welt der „tüchtigen tapferen Tugend“ dazu, dass ein FFF (freiheitlicher Facebook-Fuzzi) „Nächstenliebe“ absondern und Ute Bock quasi zum Schlaganfall gratulieren darf. 2003 war doch vieles besser, Herr Chodorkowski! dieter.chmelar@kurier.at