Meinung/Kolumnen/GesMBH

Fotorealismus

Was ihn aber am ehesten von dem Model unterscheidet: Er hat seine Würde noch nicht verloren.

Karl Hohenlohe
über Fotografie

Ein Einkaufszentrum in Wien. Fotografen, Fernsehteam, Prominente und da hinten ein zerlumpter Mann, der schon lange nicht mehr in einem Zuhause geschlafen hat.

Ein bekannter Fotograf hat zur Vernissage gebeten. Bilder von Obdachlosen hängen an den Wänden. Gegerbte Gesichter, gezeichnet vom Leben, vom Alkohol, vom Verlust des Arbeitsplatzes, vom Verlust des Partners, und keinerlei Ziele in der Zukunft.

Die Menschen sind fasziniert von diesen Blicken, die sich doch immer in der Ferne verlieren, von den wirren Haaren und schiefen Zähnen, und für Sekunden glauben sie, sich in diese geschundenen Menschen hineindenken zu können, leiden mit, und kehren dann wieder in ihren Alltag zurück.

Ein Model nähert sich einer der großformatigen Aufnahmen. Plötzlich stemmt es die Arme in die Hüften, lächelt und es blitzt, ein unbekannter Fotograf hat auf den Auslöser gedrückt.

Immer wieder verändert sie ihre Position, wechselt gekonnt von lasziv auf romantisch, ist keck, aufreizend und dann wieder Kind.

Der alte, zerfurchte Mann mit dem struppigen Bart auf dem Bild im Hintergrund kann seine Mimik nicht mehr verändern. Auf der Aufnahme nicht und auch im richtigen Leben.

Er hat schon viel erlebt, aber er war noch nie todtrauriger Hintergrund für beschwingte Modelaufnahmen, noch nie eine schicksalsschwangere Fototapete.

Was ihn aber am ehesten von dem Model unterscheidet: Er hat seine Würde noch nicht verloren.