Meinung/Kolumnen/fabelhafte WELT

Jahr der Trauer

Aber jeder Vers und jedes Brösel halten diese wunderbaren Menschen lebendig.

Vea Kaiser
über ein Jahr der Trauer

Vor einem Jahr verstarben mein ehemaliger Griechisch-Lehrer, mein früherer Mitbewohner und meine geliebte Omi. Drei so wunderbare, prägende Menschen binnen weniger Tage zu verlieren, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Oft verdrängte ich, dass sie nicht mehr da sind. Ich klebte ein Post-it auf ein Buch „Für F., meinen besten Lehrer“. Mehrmals rief ich meine Omi an, um zu plaudern oder ihren Rat einzuholen. Als mir klar wurde, dass ich weder das Buch meinem Lehrer geben noch jemals wieder die kräftige Stimme meiner Großmutter hören würde, erstarrte ich und rang nach Luft. Jedes Mal aufs Neue. Wir alle müssen irgendwann einen Weg finden, um mit dem Verlust geliebter Menschen umzugehen. Doch wie dieser aussieht, mag verschieden sein. Nach diesem Jahr der Trauer merke ich, dass es mir persönlich nicht hilft, stillschweigend den Friedhof zu besuchen. Mein Griechisch-Lehrer erzählte oft, wie er als Jugendlicher die homerischen Epen durcharbeitete. Meine Oma wiederum glaubte fest an die zwischenmenschliche Bedeutung von Backwaren. Zu jedem Anlass buk sie Torten, hatte stets fertige Kuchen in der Tiefkühltruhe, falls Überraschungsbesuch auftauche, und musste der Opa ins Spital, stand die Oma am nächsten Tag mit selbst gebackenem Süßen in der Kaffeeküche der Station. Ich habe nun begonnen, meine eigene Homer-Übersetzung anzufertigen und regelmäßig eines der Rezepte meiner Oma nachzubacken. Wahrscheinlich wird es Jahrzehnte dauern, bis ich mit der Übersetzung fertig bin, und die Backerei wird mir wie meinem Freund etliche Kilos auf die Hüften zaubern. Aber jeder Vers und jedes Brösel halten diese wunderbaren Menschen lebendig, die mir halfen, ich selbst zu werden, während das Andenken an sie hilft, ich selbst zu bleiben. Egal, wie wir unserer Lieben gedenken. Solange wir mit ihnen sind, sind sie mit uns.vea.kaiser@kurier.at