Meinung/Kolumnen/Chaosdeluxe

Wo genau ist das Zeitfresser-Loch?

Wo ist eigentlich genau dieses Loch, in dem die ganze gewonnene Zeit verschwindet?

Polly Adler
über das Zeitfresser-Loch.

Wo ist eigentlich genau dieses Loch, in dem die ganze gewonnene Zeit verschwindet? Wahrscheinlich genau neben dem, in dem nach jedem Waschgang die zweiten Socken verschluckt werden. Mein Leben sah vor 20 Jahren so aus, dass ich stundenlang in verstaubten Archiven zwischen Kartons herumturnte, um zu recherchieren; heute logge ich mich frech in eine Datenbank – das müsste allein jährlich Hunderte Stunden bringen. Man hetzt nicht mehr panikkaufend durch die Innenstadt, sondern cruist online durch irgendwelche Super-Sale-Designer-Plattformen und hat in wenigen Minuten erledigt, wofür man früher Tage veranschlagt hat. Wenn das Zeug nicht passt, mailt man sich einfach einen Boten für den Retourversand herbei. Der Fernmeldeverkehr reduziert sich statt dieser endlosen Wie-geht’s-dir-wie-geht’s-mir-Labermarathons auf knackige Kurzbotschaften. Rein rechnerisch müsste ich also jedes Jahr mindestens einen Bonus von einem Vierteljahr an frei verfügbarer Lebenszeit geschenkt bekommen. Nur ich finde ihn nirgends. „Du musst dich entschleunigen“, erklärt mir F, die eben ein „Müßiggang, aber richtig“-Seminar im Waldviertel gebucht hat, „dir die Zeit nehmen, Zeit zu haben.“ Das klingt verdammt nach Paulo Coelho oder der Lebensweisheit einer esoterisch verseuchten Handarbeitslehrerin. Aber ich werfe einmal meinen Zynismus über Bord und beginne, „die Aufgabe anzunehmen“, wie das die Psycho-Coaches nennen. Erstens: Entrümpelung des Terminkalenders, alles, was unter die Rubrik „Attacke auf die Lebenszeit“ fällt, wird ausgemistet. Zweitens: Die Lektüre von langatmiger Weltliteratur von den Herren Tolstoi und Flaubert sowie Frau Austen. Drittens: häuslicher und sozialer Großputz. Es funktioniert. Sogar stressfrei. Das Leben ist definitiv zu kurz, um keine Zeit zu haben.

www.pollyadler.at

polly. adler[at]kurier.at

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