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chaos DE LUXE: Jammern war gestern

Ich starrte auf die Packung Taschentücher, die immer unten auf dem Schreibtisch lag. Seit vier Jahren. Wie oft wohl eine neue nachgelegt werden musste? Schließlich saßen auf diesem Stuhl täglich an die sieben Klienten, die im Stundentakt im Morast ihrer Kindheit wühlten, Frontberichte aus ihren Beziehungskriegen reportierten oder ihre "Gesamtsituation" als grauen Fluss empfanden. Der Markenname "Tempo" auf der Packung war eigentlich der blanke Hohn. So eine Psychotherapie kam ja eigentlich einer K2-Besteigung gleich. Kaum hatte man den Rucksack seiner Biografie gesattelt und wollte in Richtung Erkenntnis-Gipfel marschieren, zwangen einen Unwetter in Form von narzisstischen Kränkungen wieder zur Umkehr. Und die Basislager waren oft verdammt ungemütlich. Es musste so in etwa in Stunde Nr. 238 gewesen sein, als mich ein ergreifend schlichtes Weisheits-Blitzerl traf. Vier Jahre war ich hier gesessen und hatte mich über alles beschwert, was ich nicht hatte: Keine Schuldenfreiheit, keine Kleidergröße 38, keine "Liebling, wie war dein Tag"-Beziehung, kein Zeitgefühl, kein Kind, dessen zweiter Vorname Empathie war. Ganz falscher Zugang. Und das sichere Ticket ins Unglück. Ich räusperte mich: "Neustart, Euer Ehren, Jammern war gestern. Ich habe beschlossen, ein zufriedener Mensch zu werden. Schließlich muss ich nicht in einem Kohlebergwerk arbeiten, mein Kind hat noch keine Bank überfallen, flirttechnisch ist auch Tauwetter angesagt. Und weit und breit ist kein Bandscheibenvorfall in Sicht. So gesehen sollte mich nichts daran hindern, ein wenig glücklich zu sein." Jetzt sah mich mein Psychotherapeut traurig an: "Darüber sollten wir reden." Ich konnte ihn verstehen. Noch ein paar von meiner Sorte und er wäre arbeitslos.

Polly liest am 14. 2. in der Bücherei Liesing.

Infos:www.pollyadler.atpolly.adler(at)kurier.at

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Kürzlich erschienen: der erste Polly-Adler-Roman "Venus im Koma"

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